AUTOSTOP

                Ein Entmächtigungsgesetz für Strassenbauer:

                         ein machbares Märchen?

 

                   von: Jean Robert und Ivan Illich

 

 

     Wir wollen eine Geschichte erzählen, die aus dem Verkehr einen Spiegel macht. In diesem Spiegel soll sich  der Unsinn unserer Lebensweise zeigen, den wir nicht sehen wollen. Denn ab morgen früh könnten wir in einer verkehrsberuhigten Fahrrad-Gesellschaft leben, wenn wir es nur für möglich hielten, dass vernünftige Bescheidenheit sich politisch durchsetzen kann.

     Vernunft sieht ein, dass motorisierte Verschleppung nur in dem Mass Bewegungsfreiheit fördert, in dem man auf sie verzichten kann. Da ein solcher Verzicht heute nur selten gangbar ist, ist der Verkehrsstau zum Paradigma der Verbrauchergesellschaft geworden. Beräderte Verschleppung - gleich ob mit privaten oder öffentlichen Fahrzeugen - hat eine unabdingliche Folge: sie mindert Freizügigkeit in dem Masse, in dem sie Passagierkilometer produziert. Das Verkehrswesen ist Monument für das Grunderlebnis unserer Zeit: Das Immer-Mehr an raffiniert integriertem Transport gebiert eine Gesellschaft von tagsüber gelähmten Joggern.

     Von dieser Einsicht ausgehend schlagen wir ein Gedankenexperiment vor: die Begrenzung des Zwangs zur Selbstentmachtung durch Transport, um so Freizügigkeit in Schuhwerk, auf Fahrrad oder gar Barfuss zu mehren.

     Jedermann wusste, dass die Welt zugänglich ist: die "dritte" Welt lag bis vor kurzem gewöhnlich in der Reichweite der Füsse ihrer Bewohner. Der amerikanische Grenzschutz steht seit Jahrzehnten hilfslos der Einwanderung von Millionen Mexikanern gegenüber.

     Eine Grosstudie aus dem Jahr 1959 ergab, dass die dicht besiedelte Stadt Mexiko damals noch aus denselben  40 Ortschaften bestand, die vor der Eroberung durch Cortez Märkte waren: Weniger als ein Prozent der Bewohner kamen im Laufe der typischen Woche über die anliegende "Ortschaft" hinaus. Seit damals hat sich die Bevölkerung der Stadt fast verzehnfacht, der Verkehr ist genial organisiert, und der tägliche Zwang zur Verschleppung ins Weite hat seit damals undenkbare Dimensionen angenommen. Schüler wie

Pensionisten, um von Angestellten oder schwangeren Frauen zu schweigen, müssen stets an irgeneinen unzugänglichen Ort.

     Das Gehen war nie ungemischtes Vergnügen: Es konnte gefährlich, mühsam, enttäuschend, schmerzhaft und auch abenteuerlich sein. Aber prinzipiell ist es fast kostenlos gewesen. "Fast", denn jedermann musste die Rappen für die Fähre aufbringen - und Schaumtier oder Kutsche blieb die Sache der Reichen. Duldung des Fremden, Gastung, Caritas, Gesellschaft auf dem Weg und bei der Rast waren weitaus bedeutender für Freizüglichkeit als die Kneipe. Menschen waren stets an dem Ort, wo sie ihre Füsse hingebracht hatten.

     Was heisst das? Sehr weniges an der Freizügigkeit war warenförmig. Füsse sind nicht, wie das Verkehrswissenschaftler behaupten, unterentwickelte Mittel zum Selbsttransport. Und das stimmt auch für das Zeug, das die Füsse rüstet: Stab und Sandale, Stiefel, Mantel und - seit nun hundert zwanzig Jahren - das Fahrrad. Die Zeit der Reise war Lebens- und nicht Uhrzeit. Bis zum Aufkommen der Postkutsche im späten 18. Jahrhundert, und kurz darauf der Einsenbahn, gab es nichts dem Passagierkilometer vergleichbar.

     So wie die Eisenbahn die Minute schuf, so schuf sie auch den Begriff des Passagierkilometers und des Fahrpreises, zu dem Entfernung per capita überbrückt wird. Das sind beides Grundvorstellungen, die sich im Laufe des Eisenbahnzeitalters durchsetzen mussten, um Menschentransport zur Ware

zu machen. Bis nach dem ersten Weltkrieg wurde die Ware

"Passagierkilometer" von berufstätigen Eisenbahnern oder

Chauffeuren produziert. Passagiere waren Konsumenten. Erst mit dem amerikanischen Volks-wagen, dem Ford-Modell T, hat sich die Idee durchgesetzt, dass Mobilität primär und eigentlich ein industrielles Produkt sei, zu dessen Erstellung jedermann unbezahlt schuften muss. Jeder Angestellte bei Ford hatte nun das Privileg, unbezahlt seine Arbeitskraft morgens an das Fabriktor zu liefern. Ohne eigenes Auto wurden immer mehr Menschen unfähig, ihre Arbeitskraft zu vermarkten, Einkäufe zu tätigen, Kinder zu haben. So wurde Verkehr zum Idealtypus der neuen Ware: einer

Synthese aus Abzahlungen, Betriebskosten und unbezahlter Aufwertung des Betriebskapitals "PKW". Schattenarbeit, also unbezahlte, zeitraubende und disziplinierte Aufwertung der Ware, um sie konsumfertig zu machen, wurde zur Grundlage des Existenz im späten Industriesystem.

     Es ist wundersam, wie stark dieser Zusammenhang auf zwei Generationen hin ausgeblendet blieb: Mode, Eitelkeit, Warenfeschitismus und von Werbung geschürte Gier schufen das Wahnbild der Befreiung durch das Auto: Befreiung von Fahrplan, von der Warteschlange, von der vorgegebenen Route.

     Für die meisten Zeitgenossen, die vor 1970 geboren sind, ist das Auto noch immer das Symbol für industriell bedingte persönliche Freiheit. Für die Nachgeborenen - auch dann wenn sie zutiefst in einer zersiedelten Welt befangen sind - ist "Befreiung durch Wirtschaftswachstum" schon meist ein

durchsichtiges Oxymoron. Die Kluft des Unverständnisses zwischen zwei Generationen war vielleicht nie so tief.

    

     Nun zu unserer Geschichte. Ob sie ein Vorschlag ist, oder ein Märchen, wird jeder Leser selber bestimmen. Die Geschichte soll zeigen, wie undenkbar oft das unmittelbar Machbare ist.  Wir stellen uns nämlich vor, dass der Oberste Gerichtshof zu dem Schluss gekommen ist, dass die Verwendung von Strassen, die mit Steuermitteln bezahlt wurden, nur dann erlaubt sein kann, wenn das Verkehrsmittel im öffentlichen Dienst steht. Dass also jedes Auto - so lange ein Sitz noch frei ist - anhalten muss wennwer mit genommen werden will. Das heisst, dass - von nun an - nur der oder die als Fahrer zugelassen werden, die durch ihre Arbeit Passagierkilometer produzieren und auch entsprechend bezahlt werden. Wir wollen nicht, dass Hausfrauen und andere Schattenarbeiter am Steuer von nun an bezahlt werden sollen. Wir meinen, ganz im Gegenteil, dass niemand chauffieren soll, der nicht pro Passagierkilometer dafür bezahlt wird. Und auch, dass jedermann sich einen Chauffeur leisten kann.

     Wir glauben, dass dieser simple Vorschlag, wenn durchdacht, viele Vorstellungen nicht nur über Verkehr, sondern über Wirtschaft überhaupt, auf den Kopf stellt. Es ist ein Anstoss zum Nachdenken darüber, dass auch ohne techniche Neuerung die Veränderung unserer ethischen Haltung unsere Um- und Mitwelt umgestalten könnte. Was wir vorschlagen, ist nur ein

erster Schritt; es hat nichts von einer vollkommenen Lösung an sich.

     Wie könnte so etwas ab morgen zustande kommen? Gib jedem Bürger bei Geburt eine Transport-Kredit-Karte. Verabrede das Zeichen, das den nicht voll besetzten PKW zum Stehen bringt. Lass Brown-Bovery oder Toshiba dafür sorgen, dass in jedem Wagen ein schwarzer Kasten ist, mit einem Schlitz pro Sitz für die Karten. Lass das Verkehrsamt sich mit dem Finanzamt streiten, wer die Taximeter liest, die Fahrer bezahlt und den Passagieren die Rechnung ausstellt. Das könnte ueber die Post gehen, wie beim Telephon. Wenn's über die Steuer liefe, könnten den Unbemittelten Zugeständnisse gemacht werden. Stell Säulen auf, dort wo Passagiere Fahrzeuge anhalten dürfen: Mit Dach, oder gar mit Heizung. Lass Passagiere für die Anzeige des Fahrers sorgen, wenn er nicht anhält. Wenn er lästig wird, so identifizieren die Plastikkarten im Schlitz die Zeugen. Und wenn gerade

viel vergewaltigt wird, wo soll man sicherer sein, als dort, wo die Kreditkarte der Polizei eine unauslösliche Spur hinterlässt?

     Ist das Fabel oder Vorschlag? Lass den Leser entscheiden. Lass den, der hier ein unwiderstehliches Projekt wittert, praktische Fragen stellen:

     Wo gäbe es dann noch einen Stau? Wie viele Fussgaengerzonen und Fahrradwege entstehen dabei von selbst? Wie oft würde jemand auf Transport verzichten? Was bedeutet unsere Entscheidung des Obersten Gerichtshofes für das Fahrrad? Wie lässt sich der Gewinn der unabhängigen, öffentlichen Chauffeure mit dem Abbau von gewerkschaftlich geschützten Arbeitsplätzen vergleichen? Welche sozialen Folgen hätte die uneingeschränkte Abschaffung aller Dienstwagen, vom Arzt bis zum Bundespräsidenten? Liesse

sich das Privileg des Polizeimannes darauf beschränken, in der Warteschlange immer gleich vorn zu stehen? Was wären die oekologischen Gewinne? Was lässt sich an öffentlichen Erhaltungskosten sparen? Wie schnell liesse sich durch diese Ersparnisse ein Fond schaffen, durch den der Staat die Abzahlung jener Pkws uebernimmt, deren Besitzer nicht im autonomen öffentlichen Dienst Passagierkilometer produzieren wollen? Wie werden sich die Taxi-Gewerkschaften vor dem Obersten Gerichtshof diesen Bestimmungen widersetzen? Wie muss diese Geschichte besser erzählt werden, damit Vernunft sich gegen den Schein der Selbstverständlichkeit durchsetzen kann? Das sind nur einige der Fragen, wenn unsere Geschichte ein Vorschlag wäre. 

     Wenn sie aber nur eine Fabel ist: warum ist sie so ärgerlich? Vielleicht deshalb, weil weder an eine neue Technik noch Ideologie, sondern nur an Vernunft appeliert wird.

     Wir haben uns diese Geschichte erzählt, weil einer von uns beiden vor Jahrzehnten in der Liga der Kriegsgegner aktiv war. Und der ist von Jahr zu Jahr darüber trauriger geworden, dass es leichter ist, für Frieden gegen Krieg zu werben als für Füsse gegen Automobile oder gar Freizügigkeit gegen Zwangskonsum.