Ivan Illich
Aus: Ivan Illich (1983). Fortschrittsmythen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,
S. 73-112 (Erstauflage 1978).
In jüngster
Zeit scheint es unvermeidlich, die drohende Energiekrise zu beschwören.
Dieser Euphemismus verbirgt einen Widerspruch und sanktioniert eine Illusion.
Er maskiert den Widerspruch, der dem gleichzeitigen Streben nach Gerechtigkeit
und industriellem Wachstum innewohnt. Er wahrt die Illusion, daß die
Maschine unbeschränkt den Menschen ersetzen könne. Um diesen
Widerspruch zu verdeutlichen und diese Illusion aufzudecken, müssen wir
die Realität beleuchten, welche das Gerede von der Krise verschleiert: Hohe
Energiequantitäten deformieren die sozialen Beziehungen ebenso
unvermeidlich, wie sie das physische Milieu zerstören. Energie-Anwendung
vergewaltigt die Gesellschaft, bevor sie die Natur zerstört. Die
Sachwalter einer Energiekrise vertreten und propagieren ein eigenartiges
Menschenbild. Nach dieser Auffassung wird der Mensch in eine anhaltende
Abhängigkeit von Sklaven hineingeboren, die zu beherrschen er mühsam
lernen muß. Sofern er nicht Gefangene beschäftigt, braucht er
Motoren, die den größten Teil seiner Arbeit tun. Nach dieser Doktrin
ist das Wohl einer Gesellschaft zu messen an der Zahl der Energiesklaven, die
sie zu befehligen lernt. Diese Überzeugung ist den widerstreitenden
Ideologien, die heute im Schwang sind, gemeinsam. Sie wird durch die offensichtliche
Ungerechtigkeit, Gehetztheit und Ohnmacht in Frage gestellt, die überall
auftreten, sobald die unersättlichen Horden der Energiesklaven die
Menschen in einer bestimmten Proportion zahlenmäßig
übertreffen. Das Schlagwort von der Energiekrise legt den Akzent auf die
Knappheit des Futters für diese Sklaven. Ich möchte dagegen fragen,
ob freie Menschen diese überhaupt brauchen.
Die in diesem Jahrzehnt ergriffenen energiepolitischen Maßnahmen
werden über den Spielraum der sozialen Beziehungen entscheiden, dessen
eine Gesellschaft im Jahr 2000 sich wird erfreuen können. Eine Politik des
geringen Energieverbrauchs ermöglicht eine breite Skala von Lebensformen
und Kulturen. Moderne und doch energiekarge Technologie läßt
politische Optionen bestehen. Wenn eine Gesellschaft sich hingegen für
einen hohen Energieverbrauch entscheidet, werden ihre sozialen Beziehungen
notwendig von der Technokratie beherrscht und – gleichgültig ob als
kapitalistisch oder sozialistisch etikettiert – gleichermaßen menschlich
unerträglich werden.
Heute steht es noch den meisten Gesellschaften – besonders den armen –
frei, ihre Energiepolitik an einer von drei möglichen Richtlinien zu
orientieren: Sie können ihr Wohlergehen mit einem hohen
Pro-Kopf-Energieverbrauch, mit hoher Effizienz der Energietransformation oder
aber mit dem geringstmöglichen Einsatz mechanischer Energie gleichsetzen.
Das erste Verfahren würde die straffe Verwaltung knapper und destruktiver
Treibstoffe zugunsten der Industrie bedeuten. Das zweite würde die
Umrüstung der Industrie im Sinne thermodynamischer Wirtschaftlichkeit in
den Vordergrund stellen. Beide Methoden implizieren gewaltige öffentliche
Ausgaben für eine verschärfte soziale Kontrolle und enorme
Reorganisation der Infrastruktur. Beide erklären erneutes Interesse an
Hobbes, beide rationalisieren die Entstehung eines computerisierten Leviathans,
und beide werden gegenwärtig in weiten Kreisen diskutiert. Strengere
Planwirtschaft und elektronisch gesteuerte Schnellbahnen sind spießige
Vorschläge, ökologische Ausbeutung durch soziale und psychologische
zu ersetzen.
Eine dritte, wesentlich neue Möglichkeit wird kaum zur Kenntnis
genommen: optimale Meisterung der Natur mit beschränkter mechanischer
Kraft klingt noch wie Utopie. Man beginnt zwar, eine ökologische
Beschränkung des maximalen Pro-Kopf-Energieverbrauchs als Bedingung des
Überlebens zu akzeptieren, doch anerkennt man noch nicht den Einsatz der
geringstmöglichen Energiemenge als notwendige Grundlage für jedwede
Sozialordnung, die sowohl wissenschaftlich begründbar als auch politisch
gerecht ist. Noch mehr als Treibstoff-Hunger muß
Energie-Überfluß zur Ausbeutung führen. Nur wenn eine
Gesellschaft den Energieverbrauch selbst ihres mächtigsten Bürgers
begrenzt, kann sie soziale Beziehungen ermöglichen, die sich durch ein
hohes Maß an Gerechtigkeit auszeichnen. Karg bemessene Technik ist
Bedingung, wenn auch keine Garantie für soziale Gerechtigkeit. Gerade
diese dritte Energie-Politik, die gegenwärtig übersehen wird, ist die
einzige, die allen Nationen offensteht: Keinem Land sollten heute die Rohstoffe
und Kenntnisse fehlen, um diese Politik innerhalb einer halben Generation zu
verwirklichen. Die partizipatorische Demokratie setzt eine Technologie des
geringen Energieverbrauchs voraus, und – umgekehrt – kann nur der politische
Wille zur Dezentralisation die Bedingungen für eine rationale Technologie
schaffen.
Was allgemein übersehen wird, das ist die Tatsache, daß
Gerechtigkeit und Energie nur bis zu einem gewissen Punkt im Einklang
miteinander zunehmen können. Unterhalb einer bestimmten Schwelle des
Wattverbrauchs pro Kopf verbessern die Motoren die Bedingungen des sozialen
Fortschritts. Ist diese Schwelle überschritten, dann nimmt der
Energieverbrauch einer Gesellschaft auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit zu.
Ein weiterer Energieüberschuß bedeutet dann eine schlechtere
Verteilung der Kontrolle über diese Energie. Der Grund hierfür ist
nicht die Begrenzung der technischen Möglichkeit, Energie-Kontrolle zu
verteilen, sondern Schranken, die mit der Dimension des menschlichen Leibes,
der sozialen Rhythmen und dem Lebensraum gegeben sind.
Der weitverbreitete Glaube, daß saubere und reichlich vorhandene
Treibstoffe das Allheilmittel für soziale Übel seien, geht auf einen
politischen Trugschluß zurück, der besagt, daß Gerechtigkeit
und Energieverbrauch, zumindest unter gewissen politischen Bedingungen,
unbegrenzt miteinander vereinbart werden könnten. Wohlergehen wird mit dem
Energie-Wohlstand verwechselt, den die Kernfusion 1990 produzieren soll. Wenn
wir mit dieser Illusion arbeiten, dann neigen wir dazu, jede sozial
begründete Beschränkung des wachsenden Energiekonsums zu
vernachlässigen und uns von ökologischen Überlegungen blenden zu
lassen: wir stimmen dem Ökologen zu, daß nichtphysiologische
Kraftanwendungen die Umwelt verunreinigen, und übersehen, daß
mechanische Kraft – jenseits einer gewissen Schwelle – das soziale Milieu
korrumpiert. Die Schwell der sozialen Desintegration durch hohe Energiemengen
ist unabhängig von der Schwelle, an der die Umwandlung von Energie in
physische Zerstörung übergeht. In Pferdestärken
ausgedrückt, ist sie wohl in vielen Fällen niedriger. Das klingt
heute noch undenkbar, kann aber wenigstens am Beispiel von Verkehr und Bauwesen
nachgewiesen werden. Der Begriff sozial kritischer Energie-Quanten muß
erst einmal theoretisch erhellt werden, bevor es möglich ist, den
Wattverbrauch pro Kopf, auf den eine Gesellschaft ihre Mitglieder
beschränkt, als politische Frage zu erörtern.
In früheren Diskussionen habe ich gezeigt, daß die Kosten der
sozialen Kontrolle jenseits einer gewissen Höhe des Bruttosozialprodukts
schneller zunehmen als das Gesamtprodukt und die bestimmende institutionelle
Aktivität innerhalb einer Volkswirtschaft werden. Die von Erziehern,
Psychiatern und Sozialarbeitern verabreichte Therapie muß sich den
Programmen der Planer, Manager und Verkaufsstrategen einfügen und die
Leistungen der Sicherheitsdienste, des Militärs und der Polizei
ergänzen. Meine Analyse der Erziehungsindustrie bezweckte diesen Nachweis
auf einem beschränkten Sektor. Ich möchte nun einen Grund benennen,
warum ein wachsender Energieüberschuß eine Zunahme der Herrschaft
über Menschen erfordert. Jenseits einer kritischen Stufe des
Energieverbrauchs pro Kopf, behaupte ich, müssen das politische System und
der politische Kontext jeder Gesellschaft verkümmern. Gewaltige
Verkehrsmittel, Bauten und Werkzeuge entmachten den politischen Prozeß
und zwingen den wehrlosen Menschen in ihren Dienst. Sobald das kritische
Quantum des Energieverbrauchs pro Kopf überschritten ist, muß die
Erziehung für die abstrakten Ziele einer Technokratie an die Stelle der
legalen Garantien für die individuelle, konkrete Initiative treten. Dieses
Quantum ist die Grenze, an der Rechtsordnung und Politik zusammenbrechen und
die technische Struktur der Produktionsmittel die soziale Struktur
vergewaltigen muß.
Selbst wenn eine nicht die Umwelt schädigende Energie möglich und
reichlich vorhanden wäre, wirkt sich doch ein massiver Energieverbrauch
auf die Gesellschaft wie eine zwar physisch harmlose, doch psychisch
versklavende Droge aus. Die Gemeinschaft kann wählen zwischen Methadon und
dem „Cold Turkey“ – zwischen dem Beibehalten ihrer Sucht nach fremder Energie
und dem Verzicht unter schmerzhaften Krämpfen –, doch keine Gesellschaft
kann damit rechnen, daß ihre Mitglieder autonom handeln und gleichzeitig
von einer stetig wachsenden Zahl von Energiesklaven abhängig sind. Wie ich
meine, muß die Technokratie obsiegen, sobald das Verhältnis von
mechanischer Kraft zu „metabolischer“ Energie eine bestimmte, definierbare
Schwelle überschreitet. Die Größenordnung, in der diese
Schwelle liegt, ist weitgehend unabhängig vom Grad der angewandten
Technisierung, doch schon ihr bloßes Vorhandensein ist in den
Ländern des großen wie des mittleren Wohlstands in den toten Winkel
der sozialen Phantasie gerückt. Sowohl die USA als auch Mexiko haben die
kritische Grenze überschritten. In beiden Ländern vermehrt ein
zusätzlicher Energie-Input Ungleichheit, Ineffizienz und Ohnmacht. Obwohl
das Pro-Kopf-Einkommen im einen Land bei 500 Dollar und im anderen bei 5000
Dollar liegen mag, werden beide durch das mächtige wirtschaftliche
Interesse an einer industriellen Infrastruktur angespornt, den Energieverbrauch
weiter zu eskalieren. Infolgedessen versehen nordamerikanische wie mexikanische
Ideologen ihre Frustration mit dem Etikett Energiekrise, und in beiden
Ländern stellt man sich blind für die Tatsache, daß die Gefahr
des sozialen Zusammenbruchs weder von einer Treibstoffknappheit noch von einer
verschwenderischen, umweltschädlichen und irrationalen Verwendung der
verfügbaren Wattleistung ausgeht, sondern vom Versuch der Industrie, die
Gesellschaft mit Energiemengen zu überfüttern, welche die Mehrzahl
der Menschen unausweichlich erniedrigen, berauben und frustrieren.
Ein Volk kann durch die Energiemenge seiner Maschinen ebenso
überfahren werden wie durch den Kaloriengehalt seiner Nahrung, aber die
energiemäßige Übersättigung der Nation gesteht man sich
viel schwerer ein als eine krankmachende Diät.
Die für das soziale Wohl kritische Energiemenge pro Kopf liegt in
einer Größenordnung, die außerhalb Chinas zur Zeit der
Kulturrevolution wenigen Völkern bekannt war: sie geht weit über die
PS-Zahl hinaus, über die vier Fünftel der Menschheit verfügen,
und bleibt weit unter der Energie, über die jeder Volkswagenfahrer
gebietet. Sie scheint dem Überkonsumenten wie dem Unterkonsumenten
gleichermaßen nichtssagend. Für die Absolventen aller Mittelschulen
der Welt bedeutet eine Beschränkung des Energieniveaus den Zusammenbruch
ihres Weltbildes – für die meisten Südamerikaner bedeutet dasselbe
Niveau ihren Eintritt in die Welt der Motoren. Beide finden es schwer. Für
die Primitiven ist die Beseitigung der Sklaverei abhängig von der
Einführung einer modernen, bewußt bemessenen Technik, und wenn die
Bewohner reicher Länder eine noch furchtbarere Schinderei vermeiden
wollen, dann sind sie darauf angewiesen, jene Schwelle des Energieverbrauchs zu
erkennen, jenseits welcher die technischen Prozesse anfangen, die sozialen
Beziehungen vorzuschreiben. Kalorien sind biologisch wie auch sozial nur so
lange bekömmlich, als ihre Menge innerhalb des engen Bereichs bleibt, der
das Genug vom Zuviel scheidet.
Die sogenannte Energiekrise ist also ein politisch zweideutiges Problem.
Das öffentliche Interesse an der Quantität der Energie und der
Verteilung der Kontrolle über den Energieverbrauch kann in zwei
entgegengesetzte Richtungen führen. Einerseits kann man Fragen
formulieren, die den Weg zur politischen Rekonstruktion eröffnen
würden, indem sie die Bemühungen um eine postindustrielle,
arbeitsintensive Wirtschaft mit geringem Energieverbrauch und hohem Maß
an Gerechtigkeit freisetzen. Andererseits kann die hysterische Sorge um das
Futter für die Maschinen die heutige Eskalation des kapitalintensiven institutionellen
Wachstums verstärken und uns die letzte Chance rauben, einem
hyperindustriellen Armageddon zu entgehen. Die politische Rekonstruktion setzt
die prinzipielle Erkenntnis voraus, daß es kritische Mengen des
Pro-Kopf-Verbrauchs gibt, über die hinaus Energie nicht mehr durch
politische Prozesse kontrolliert werden kann. Ökologische
Beschränkungen des Gesamt-Energieverbrauchs, die von industriefreundlichen
Planern in der Absicht erlassen werden, die Industrieproduktion auf einem gewissen
hypothetischen Maximum zu halten, werden unvermeidlich den sozialen
Zusammenbruch nach sich zeihen. Reiche Länder wie die USA, Japan oder
Frankreich werden vielleicht nie den Punkt erreichen, wo sie an ihren eigenen
Abfällen ersticken, aber nur deshalb, weil ihre Gesellschaften bereits in
einem sozialkulturellen Energiekoma zusammengebrochen sein werden. Länder
wie Indien, Burma und, zumindest noch einige Zeit, China befinden sich in der
umgekehrten Position, daß sie immer noch genügend auf Muskelkraft
fundiert sind, um kurz von einem Energiekollaps haltmachen zu können. Sie
könnten schon jetzt beschließen, innerhalb jener
Pro-Kopf-Energie-Grenzen zu bleiben, in die die reichen Länder unter
gewaltigen Einbußen ihrer einzementierten Kapitalien zurückgezwungen
werden.
Die Entscheidung für eine Wirtschaft mit minimalem Energieverbrauch
verlangt von den Armen, ihre weitgesteckten Erwartungen aufzugeben, und von den
Reichen, ihre wirtschaftlichen Interessen als Schuldzusammenhang zu erkennen.
Beide müssen das fatale Bild des Menschen als Sklavenhalter
zurückweisen, das gegenwärtig durch einen ideologisch stimulierten
Hunger nach immer mehr Energie gefördert wird. In jenen Ländern,
deren industrielle Entwicklung in den Überfluß mündete, wird
die Energiekrise als Knüppel benutzt, um die Steuern hochzutreiben, die
notwendig sein werden, um rationellere und sozial tödlichere industrielle
Verfahren an die Stelle derer zu setzen, die durch eine ineffektive
Überexpansion veraltet sind. Den Führern jener Völker, die durch
denselben Prozeß der Industrialisierung enteignet wurden, dient die
Energiekrise als Alibi für die Zentralisierung der Produktion, der
Aufrüstung der Bürokratie und der Umweltzerstörung im Dienste
eines letzten verzweifelten Versuchs, mit den besser mit Motoren ausgestatteten
Ländern gleichzuziehen. Die reichen Länder sind jetzt dabei, ihre
Krise zu exportieren und das neue Evangelium eines puritanischen Energiekults
den Armen und Schwachen zu predigen. Wenn die neue Saat der energiesparenden
Industrialisation in der Dritten Welt aufgeht, fügen sie den Armen mehr
Schaden zu, als sie es dadurch taten, daß sie ihnen die
verschwenderischen Produkte von heute veralteten Fabriken andrehten. Sobald ein
armes Land die Doktrin akzeptiert, daß mehr und sorgfältiger
verwaltete Energie stets mehr Waren für mehr Menschen erbringen wird, ist
dieses Land dem Wettlauf in die Versklavung durch die Maximierung der
Industrieproduktion verfallen. Wenn die „Armen“ sich dafür entscheiden,
ihre Armut durch eine vermehrte Abhängigkeit von Energiequellen zu
modernisieren, dann verzichten sie unausweichlich auf die Alternative einer
rationalen Technologie. Die Armen werden notwendig auf die Möglichkeit
einer befreienden Technologie und einer partizipatorischen Politik verzichten,
wenn sie – im Dienste mit höchstmöglichem Energieverbrauch - die
höchstmögliche soziale Kontrolle in Form von moderner Erziehung
akzeptieren.
Die Lähmung der modernen Gesellschaft, die sich Energiekrise nennt,
kann nicht durch einen höheren Aufwand an Energie überwunden werden.
Sie kann nur gelöst werden, wenn wir die Illusion aufgeben, daß
unser Wohl von der Zahl der Energiesklaven abhängt, über die wir
gebieten. Zu diesem Zweck ist es notwendig, daß wir die Schwelle
erkennen, jenseits welcher Energie korrumpiert, und daß wir dies in einem
politischen Prozeß tun, der die Gemeinschaft im Bemühen um diese
Erkenntnis und die darauf gebaute Selbstbeschränkung vereinigt. Da diese
Art Forschung dem entgegengesetzt ist, was Experten und Institutionen heute
tun, will ich sie als Gegenforschung bezeichnen. Diese umfaßt drei
Schritte: Zuerst muß die Notwendigkeit einer Beschränkung des
Energieverbrauchs pro Kopf theoretisch als sozialer Imperativ anerkannt werden.
Dann muß der Bereich bestimmt werden, innerhalb dessen die kritische
Größe sich bewegen mag. Und schließlich muß jede
Gesellschaft bestimmen, welchen Grad der Ungerechtigkeit, Zerstörung und
Propaganda ihre Mitglieder zu akzeptieren bereit sind, um einer seltsamen
Befriedigung willen: Sie dürfen mächtige Maschinen zum Idol machen
und um dieses „Eiserne Kalb“ nach dem von Experten geschlagenen Takt tanzen.
Die Notwendigkeit einer politischen Erforschung der gesellschaftlich
optimalen Energiemengen läßt sich an Hand einer Untersuchung des
modernen Verkehrs illustrieren. Die USA wenden, nach Herendeen, 42 % ihrer
gesamten Energie für Fahrzeuge auf: Um sie herzustellen, sie zu betreiben
und ihnen Platz zu schaffen, wenn sie parken, fahren oder fliegen. Der
größte Teil dieser Energie wird gebraucht, um Menschen zu
befördern. Lediglich für diesen Zweck wenden 250 Millionen Amerikaner
mehr Treibstoff auf als 1300 Millionen Chinesen und Inder insgesamt
verbrauchen. Beinah die gesamte Energiemenge wird in einem
Beschwörungstanz der zeitraubenden Akzeleration verheizt. Die armen
Länder verausgaben weniger Energie pro Person, aber Länder wie Mexiko
oder Peru wenden einen noch größeren Prozentsatz ihrer gesamten
Energie für den Verkehr auf als die USA, und dieser kommt einem geringeren
Prozentsatz der Bevölkerung zugute. Der Umfang dieses Unternehmens macht
es sowohl einfach wie auch bedeutsam, am Beispiel der Personenbeförderung
die Existenz gesellschaftlich kritischer Energiequanten zu demonstrieren.
Im Verkehr setzt sich die über einen bestimmten Zeitraum aufgewandte
Energie (Kraft) in Geschwindigkeit um. In diesem Fall erscheint also das
kritische Quantum auch als Geschwindigkeitsgrenze. Wann immer diese Grenze
überschritten wurde, zeigte sich bisher das grundlegende Muster der
sozialen Zerstörung durch hohe Energiequanten. Sobald in einer westlichen
Gesellschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts ein allgemeines Verkehrsmittel
schneller als 25 km/h fuhr, nahm die gerechte Billigkeit ab, die Knappheit von
Zeit und Raum nahm zu. Der motorisierte Transport monopolisierte den Verkehr
und blockierte die Fortbewegung aus eigener Kraft. In allen westlichen
Ländern multiplizierte sich die Zahl der Reisekilometer binnen
fünfzig Jahren seit dem Bau der ersten Eisenbahn um etwa das Hundertfache.
Wenn die Proportion ihrer jeweiligen Energieproduktion einen bestimmten Wert
überschritt, dann schlossen die mechanischen Umwandler mineralischer
Treibstoffe den Menschen vom Gebrauch seiner metabolischen Energie aus und
zwangen ihn, ein versklavter Konsument der Beförderungsmittel zu werden.
Diese Auswirkung der Geschwindigkeit auf die Autonomie des Menschen wird nur am
Rande durch die technologischen Eigenschaften der verwendeten Motorfahrzeuge
bzw. durch die Personen oder Gruppen beeinflußt, welche die rechtliche
Verfügung über Fluglinien, Busse, Eisenbahnen oder Pkw besitzen. Hohe
Geschwindigkeit ist der kritische Faktor, durch den das Transportwesen zum
Instrument der gesellschaftlichen Ausbeutung werden muß. Eine wirkliche
Entscheidung zwischen politischen Systemen und so die Entwicklung partizipatorischer
Sozialbeziehungen ist nur dort möglich, wo die Geschwindigkeit
beschränkt wird. Die partizipatorische Demokratie verlangt eine karge
Bemessung des Energieverbrauchs in ihrer Technik. In schlichter Formulierung
läßt sich folgendes sagen: Produktive Sozialbeziehungen unter freien
Menschen bleiben auf das Fahrradtempo beschränkt.
An Hand des Verkehrs möchte ich den allgemeineren Gesichtspunkt des
gesellschaftlich optimalen Energieverbrauchs illustrieren, und ich
beschränke mich auf die Beförderung von Personen einschließlich
ihres persönlichen Gepäcks und der für Fahrzeug und Straße
erforderlichen Treibstoffe, Materialien und Geräte. Ich sehe absichtlich
von der Erörterung zweier anderer Formen des Verkehrs ab: der Waren- und
Nachrichtenbeförderung. In beiden Fällen ist eine parallele
Argumentation möglich, doch müßte die Schlußfolgerung
einen anderen Gang nehmen, und ich spare mir dies für eine spätere
Gelegenheit auf.
Der Gesamtverkehr ist das Ergebnis von zwei unterschiedlichen
Anwendungsweisen der Energie. Verkehr ist eine Summe aus persönlicher
Fortbewegung (autogenem Transit) und mechanischer Beförderung (dem
Transport von Menschen). Unter Transit verstehe ich jene Art der
Fortbewegung, die auf der metabolischen Energie des Menschen beruht, und unter
Transport verstehe ich jene Bewegungsform, die von anderen Energiequellen
Gebrauch macht. Bei diesen Energiequellen wird es sich künftig vor allem
um Motoren handeln, da die Tiere, soweit sie nicht Distelfresser wie der Esel
und das Kamel sind, in einer übervölkerten Welt mit dem Menschen in
einem erbitterten Wettkampf um die Nahrung stehen. Wie schon gesagt,
beschränke ich meine Beobachtung auf die Ortsveränderung von Menschen
jenseits ihrer Haustür.
Sobald die Menschen – nicht nur bei mehrtägigen Reisen, sondern auch
im täglichen Pendelverkehr – auf Beförderung angewiesen sind, treten
die Widersprüche zwischen sozialer Gerechtigkeit und Motorkraft, zwischen
effektiver Fortbewegung und hoher Geschwindigkeit, zwischen individueller
Freiheit und vorgeschriebenem Geleise mit eindringlicher Klarheit hervor. Die
erzwungene Abhängigkeit von automobilen Maschinen verweigert dann einer
Gesellschaft von lebendigen Menschen gerade jene Beweglichkeit, deren
ursprünglicher Zweck die Mechanisierung des Transportwesens war.
Verkehrs-Sklaverei setzt ein.
Der schnell verfrachtete und stets verschleppte Mensch kann kaum mehr
wandern, wandeln oder spazieren, bummeln, laufen oder auch nur marschieren und
schon gar nicht schlendern, pilgern oder vagabundieren; und doch muß er
ebenso lange auf den Füßen sein wie sein Großvater. Der
moderne Amerikaner muß im Durchschnitt genauso viele Kilometer zu
Fuß laufen wie seine Vorfahren – zumeist durch Tunnels, Korridore,
über Parkplätze und durch Kaufhäuser.
Zu Fuß sind die Menschen mehr oder minder gleichgestellt. Menschen,
die nur zu Fuß gehen, bewegen sich spontan, mit einer Geschwindigkeit von
4 bis 6 km/h in jede Richtung und an jeden Ort, soweit ihnen dies nicht
rechtlich oder physisch verwehrt ist. Von einer Verbesserung dieser
ursprünglichen Mobilität durch eine neue Transporttechnik sollte man
erwarten, daß sie diesen Grad der Effizienz sowohl bewahrt als auch um
neue Qualitäten bereichert – etwa größere Reichweite,
Zeitersparnis, Bequemlichkeit oder bessere Chancen für die Behinderten.
Bisher ist dies nicht der Fall, vielmehr hatte das Wachstum der
Transportindustrie überall gegenteilige Folgen. Von dem Augenblick an, als
ihre Maschinen den einzelnen Reisenden mit mehr als einer gewissen PS-Kraft ausstatteten,
hat diese Industrie die Gleichheit zwischen den Menschen verringert, ihre
Mobilität auf ein System von industriell vorgeschriebenen Routen
eingeschränkt und eine Zeitknappheit nie dagewesenen Ausmaßes
geschaffen. Die Menschen werden, sobald die Geschwindigkeit ihrer Fahrzeuge
eine gewisse Schwelle überschreitet, zu Gefangenen des täglichen
Kreislaufs, der zum gleichen Punkt zurückkehrt, von dem er ausging.
Wenn mehr als ein gewisses Quantum Energie in das Transportsystem
eingefüttert wird, so bedeutet dies, daß mehr Menschen sich im Lauf
eines Tages schneller über weitere Distanzen bewegen und immer mehr Zeit
einsetzen, um befördert zu werden. Der tägliche Radius eines jeden
erweitert sich auf Kosten der Möglichkeit, den eigenen Weg zu gehen. Um
den Preis einer universalen Versklavung werden extreme Privilegien geschaffen.
Eine Elite legt in einem Leben voller Luxusreisen unbegrenzte Entfernungen
zurück, während die Mehrheit den größeren Teil ihres
Daseins mit dem ungewollten Umfahren von Flug- und Parkplätzen verbringt.
Die Wenigen besteigen ihren Zauberteppich, um zwischen entfernten Orten hin und
her zu fliegen, die sie durch ihre flüchtige Gegenwart begehrt und
verführerisch machen, während die Vielen gezwungen sind, weiter und
schneller zu fahren und mehr Zeit mit der Vorbereitung für und der
Erholung von ihrem Arbeitsweg zu verbringen.
In den USA entfallen vier Fünftel aller von Menschen unterwegs
verbrachten Stunden auf Berufspendler und zum Einkaufen fahrende
Vorstadtbewohner, die kaum je ein Flugzeug besteigen, während vier
Fünftel aller zu Urlaubs- oder Geschäftszwecken zurückgelegten
Flugkilometer Jahr für Jahr denselben eineinhalb Prozent der
Bevölkerung vorbehalten bleiben, die entweder wohlhabend oder durch ihre
Berufsausbildung privilegiert sind. Je schneller das Verkehrsmittel, desto
größer seine Begünstigung durch die regressive Besteuerung.
Gerade 0,2 % der Gesamtbevölkerung der USA kann öfter als einmal im
Jahr eine selbstgewählte Flugreise unternehmen, und nur wenige andere
Länder sind in der Lage, einen prozentual ebenso großen ‚Jet-Set’ zu
unterhalten.
Der versklavte Ausflügler wie der sorgenfreie Reisende werden
gleichermaßen vom Transport abhängig. Keiner bleibt frei davon.
Gelegentliche Blitzreisen nach Acapulco oder zu einem Parteikongreß
gaukeln dem Mittelstandsmitglied vor, er gehöre zur schrumpfenden Welt der
eiligen, mächtigen Vorstandsmitglieder. Die gelegentliche Aussicht, ein
paar Stunden angeschnallt in einem durch gewaltige Kräfte vorwärts getriebenen
Sitz zu verbringen, macht selbst den Arbeiter zum Komplizen der Deformation des
menschlichen Raumes und bringt ihn dazu, sich damit abzufinden, daß die
Geographie seines Landes für die Bedürfnisse der Fahrzeuge und nicht
für die der Menschen eingerichtet wird.
Der Mensch hat sich langsam, physisch und kulturell, im Einklang mit den
Bedingungen seiner kosmischen Nische entwickelt. Was für das Tier seine
Umwelt ist, das hat er in langer Geschichte zu seinem Wohn-Raum zu machen
gelernt. Sein Selbstbild verlangt nach Ergänzung durch einen Lebensraum
und eine Lebenszeit, in die das Tempo seiner Fortbewegung integriert ist. Das
bewußte Ebenmaß von Raum, Zeit und Tempo bestimmen ihn als Mensch.
Wenn diese Beziehung durch die Geschwindigkeit der Fahrzeuge statt durch die
Fortbewegung der Menschen bestimmt wird, dann wird der Mensch als Erbauer auf
den Status des Pendlers reduziert.
Der typische amerikanische Mann widmet seinem Auto mehr als 1 600 Stunden
im Jahr. Er sitzt darin, während es fährt und während es
stillsteht. Er parkt es und sucht es wieder auf. Er verdient das Geld, um
dafür eine Anzahlung zu leisten und die monatlichen Raten zu bezahlen. Er
arbeitet, um das Benzin, das Wegegeld, die Versicherung, die Steuern und die
Strafzettel zu bezahlen. Er verbringt vier seiner sechzehn wachen Stunden auf
der Straße oder damit, die Mittel für den Betrieb des Autos zu
beschaffen. Diese Zahl beinhaltet nicht einmal die Zeit, die für andere,
durch den Transport diktierte Aktivitäten aufgeht: die Zeit, die man im Krankenhaus,
vor dem Verkehrsrichter oder in der Werkstatt verbringt; die Zeit, die man
damit verbringt, die Automobilreklame zu studieren oder sich beraten zu lassen,
um das nächste Mal einen besseren Kauf zu tätigen. Die Gesamtkosten
von Autounfällen und vom Universitätsbetrieb sind fast überall
in der gleichen Größenordnung und steigen mit dem Sozialprodukt an.
Aber noch aufschlußreicher ist der Zeitraub durch Verkehr: Der typische
amerikanische arbeitende Mann wendet 1 600 Stunden auf, um sich 7 500 Meilen
fortzubewegen: das sind weniger als fünf Meilen pro Stunde. In
Ländern, in denen eine Transportindustrie fehlt, schaffen die Menschen
dieselbe Geschwindigkeit und bewegen sich dabei, wohin sie wollen – und sie
wenden für den Verkehr nicht 28 %, sondern nur 3 % bis 8 % ihres gesellschaftlichen
Zeitbudgets auf. Der Verkehr in den reichen Ländern unterscheidet sich vom
Verkehr in den armen Ländern nicht dadurch, daß für die
Mehrheit mehr Kilometer auf die Stunde der einzelnen Lebenszeit entfallen,
sondern dadurch, daß mehr Stunden mit dem Zwangskonsum der großen
Energiemengen verbracht werden, welche die Transportindustrie „abpackt“ und
ungleich verteilt.
Jenseits einer gewissen Schwelle des Energiekonsums diktiert die
Transportindustrie die Gestaltung des sozialen Raumes. Die Fahrbahnen dehnen
sich aus, sie treiben Keile zwischen städtische Nachbarn und trennen den
mexikanischen Bauern weiter von seinen Feldern, als er zu Fuß gehen kann.
Durch den Ambulanzwagen rückt das Sprechzimmer in Brasilien in weitere
Ferne, als man ein krankes Kind zu tragen vermag. Der Arzt kommt in New York
nicht mehr ins Haus, denn das Fahrzeug macht das Krankenhaus zum einzigen Ort,
wo man krank wein darf. Sobald schwere Lastwagen ein hoch in den Anden
gelegenes Dorf erreichen, verschwindet ein Teil des lokalen Marktes.
Später, wenn gleichzeitig mit dem befestigten Highway die Oberschule an
der Plaza Einzug hält, wandern immer mehr junge Leute in die Stadt ab, bis
es keine Familie mehr gibt, die sich nicht nach einem Wiedersehen mit irgend
jemandem sehnt, der Hunderte Kilometer entfernt drunten an der Küste lebt.
Wie unterschiedlich das oberflächliche Bild auch sein mag, wirken sich
gleiche Geschwindigkeiten für reiche wie für arme Länder doch
gleich zerstörerisch auf die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Kraft aus.
Überall prägt die Transportindustrie einen neuen Menschentypus, der
auf Schienen paßt und nach Fahrplänen läuft.
Das Produkt der Transportindustrie ist der beförderungssüchtige
Gewohnheitspassagier. Er ist aus jener Welt vertrieben, in der die Menschen
sich noch immer aus eigener Kraft fortbewegen, und er hat das Gefühl
verloren, im Mittelpunkt seiner Welt zu stehen. Dem Gewohnheitspassagier ist
die sich verschärfende Zeitknappheit bewußt; sie rührt aus dem
täglichen Angewiesensein auf Autos, Busse, U-Bahnen und Aufzüge her,
die ihn zwingen, im Schnitt 30 Kilometer täglich zurückzulegen, wobei
seine Wege sich häufig in einem Radius von weniger als 5 bis 10 Kilometern
überschneiden. Er hat den Boden unter den Füßen verloren und
ist auf das Rad geschnallt. Ganz gleich, ob er die U-Bahn oder ein Flugzeug
benutzt, er kommt sich langsamer und ärmer als die anderen, schnelleren
vor, und er ist neidisch auf die Abkürzungen, die sich die wenigen
Privilegierten, die den Frustrationen des Verkehrs zu entgehen wissen, leisten
können. Wenn er an den Fahrplan seines Pendelzuges gefesselt ist,
träumt er von einem Auto. Wenn die „rush-hour“ ihn erschöpft, ist er
neidisch auf das Tempo, mit dem der „Kapitalist“ in der Gegenrichtung des
Verkehrsstroms fährt. Wenn er sein Auto aus eigener Tasche bezahlen
muß, dann weiß er nur zu genau, daß jene, die über
Firmenfuhrparks gebieten, ihre Benzinrechnung als Spesen einreichen und den
Leihwagen als Geschäftsunkosten abschreiben. Der Gewohnheitspassagier
sitzt täglich stundenlang am unteren Ende der Skala zunehmender
Ungleichheit, Zeitknappheit und persönlichen Ohnmacht, aber er sieht
keinen anderen Weg aus dieser Zwangslage, als noch mehr vom Immergleichen zu
fordern: besseren Verkehr durch schnellere Beförderung. Er drängt auf
technische Änderungen in der Planung von Fahrzeugen, Straßen und
Fahrplänen; oder aber er wirbt für eine Revolution, die schnellen
Massentransport durch die Verstaatlichung der Transportmittel herbeiführen
soll. In keinem Fall kalkuliert er den Preis für die Beförderung in
eine bessere Zukunft. Er vergißt, daß er selbst es ist, der – in
Form von Gebühren oder Steuern – die Rechnung für weitere
Beschleunigung bezahlt. Er übersieht die indirekten Kosten für die
Ablösung der privaten Autos durch gleich schnelle öffentliche
Transportmittel. Er ist nicht mehr fähig, sich den Vorteil der Muskelkraft
gegenüber dem Kraftfahrzeug vorzustellen.
Der Gewohnheitspassagier ist also nicht imstande, den Unflug eines
überwiegend auf Transportmitteln beruhenden Verkehrs zu durchschauen.
Seine überkommene Wahrnehmung von Raum, Zeit und persönlichem Tempo
sind industriell deformiert. Er hat die Freiheit verloren, sich selbst
außerhalb der Rolle des Passagiers zu sehen. Seine Sucht, sich fahren zu
lassen, läßt ihn die Kontrolle über die physische, soziale und
psychische Kraft verlieren, die den Füßen des Menschen innewohnt.
Der voll ausgebildete Transport-Konsument erlebt sich als Körper, der
durch den Raum gejagt wird. Als Kraftfahrer lenkt, beschleunigt und bremst er
auf vorgeschriebenen Bahnen ohne Sinn für leibhaftige Macht über Land
und Boden. Sich selbst überlassen, ist er unbeweglich, verlassen,
heimatlos.
Der zur Fracht gewordene Mensch spricht eine neue Sprache. Sich „treffen“
heißt für ihn, durch Fahrzeuge zusammengebracht werden, oder
über das Mikrophon zu sprechen; Bewegungsfreiheit, das Recht, sich
befördern zu lassen. Wenn die Sprache so schrumpft, sind die
Füße politisch entmachtet. Politische Betätigung setzt so den
Verbrauch von warenhaften Dienstleistungen voraus. Was der Mensch sich
wünscht, ist daher nicht: mehr Freiheit für den Bürger, sondern
bessere Dienstleistung für den Kunden. Er verficht nicht seine Freiheit,
sich fortzubewegen und mit anderen zu sprechen, sondern sein Recht,
befördert und informiert zu werden. Er wünscht eine bessere Ware
statt der Freiheit von der Versklavung durch diese. Lebenswichtig wäre es
für ihn, zu erkennen, daß die Akzeleration seiner Ansprüche auf
ihn selbst zurückschlägt und daß sie zum Niedergang von
Freiheit, Muße und Selbständigkeit führen muß.
Unkontrollierte Geschwindigkeit ist kostspielig, und wir können sie
uns immer weniger leisten. Jeder Geschwindigkeitszuwachs eines Fahrzeugs
führt zur Vermehrung der Kosten für Antrieb, Straßen- oder
Schienenbau und – was am schwersten ins Gewicht fällt – für den Raum,
den das Fahrzeug beansprucht, während es unterwegs ist. Ist eine gewisse
Schwelle des Energieverbrauchs durch den schnellsten Reisenden einmal
überschritten, dann entsteht eine weltweite Klassenstruktur von
Geschwindigkeitskapitalisten. Der Tauschwert der Zeit gewinnt die Oberhand, und
dies spiegelt sich in der Sprache wider: Zeit wird aufgewandt, gespart,
investiert, vergeudet oder genutzt. Die Gesellschaft hängt jedem sein
Preisschildchen an, das den Wert seiner Stunde angibt, und je schneller
es geht, um so größer werden die Preisdifferenzen. Zwischen
Chancengleichheit und Geschwindigkeit besteht eine umgekehrte Korrelation.
Ein hohes Tempo verzinst die Zeit einiger Weniger zu enormen Sätzen,
doch paradoxerweise geschieht dies unter hohen Kosten für diejenigen,
deren Zeit weniger hoch bewertet wird. In Bombay besitzen nur wenige ein Auto.
Sie brauchen nur einen Vormittag, um nach Puna zu gelangen: die moderne
Wirtschaft zwingt sie zu einem wöchentlichen Besuch. Vor zwei Generationen
war diese Reise nach Puna noch ein wochenlanger Treck, den man einmal im Jahr
unternahm. Das Auto, das heute scheinbar die Wirtschaft ankurbelt, unterbricht
aber auch den Verkehrsfluß von Tausenden Fahrrädern und Rikschas,
die sich durch das Zentrum von Bombay fortbewegen, und lähmt eine ganze
Gesellschaft. Der summierte transportbedingte Zeitaufwand und die
Verstümmelung einer Gesellschaft nehmen schneller zu als die
Zeitersparnis, die einige wenige bei ihren Exkursionen machen. Überall
nimmt der Verkehr mit der Verfügbarkeit kraftstrotzender Transportmittel
unbeschränkt zu. Mit den Beförderungsmöglichkeiten steigt der
Zeitmangel. Jenseits einer gewissen kritischen Schwelle ist der Zeitverlust,
den die Produkte der Transportindustrie verursachen, größer als die
Ersparnis. Der Preis für den marginalen Nutzen steigender Geschwindigkeit
für eine kleine Zahl ist der anschwellende marginale Schadenzuwachs (rising
marginal dis-utility) der großen Mehrheit, der durch diese
zeitraubende Beschleunigung verursacht wird.
Jenseits einer kritischen Geschwindigkeit kann niemand Zeit „sparen“, ohne
daß er einen anderen zwingt, Zeit zu „verlieren“. Derjenige, der einen
Platz in einem schnelleren Fahrzeug beansprucht, behauptet damit, seine Zeit
sei wertvoller als die Zeit dessen, der in einem langsameren Fahrzeug reist.
Jenseits einer gewissen Geschwindigkeit wird der Passagier zum Räuber: er
konsumiert die Zeit der anderen und plündert die Masse der Gesellschaft.
Die Beschleunigung seines Fahrzeuges wird zum Mittel eines Netto-Transfers von
Recht über Lebenszeit. Das Maß dieses Transfers ist in
Geschwindigkeitsquanten meßbar. Dieses Zeitraffen benachteiligt jene, die
zurückbleiben, und da diese die Mehrheit sind, wirft es ethische Probleme
von allgemeinerer Natur auf als die der Nierendialyse oder der Transplantation
von Organen. Eine Gesellschaft, die das Zeitraffen der Auserwählten nicht
nur duldet, sondern auch wünscht, unterwirft sich freiwillig dem
Imperialismus mechanischer Gewalt.
Jenseits einer kritischen Geschwindigkeit schaffen Motorfahrzeuge
entfremdende Entfernungen, die nur sie überbrücken können.
Abwesenheit wird zur Regel, Anwesenheit zur Ausnahme. Eine neue
Sandstraße durch die brasilianische Wildnis bringt die Großstadt in
den Gesichtskreis, nicht aber in die Reichweite der meisten Subsistenzbauern.
Die neue Schnellstraße durch Chicago expandiert diese Stadt, aber sie
absorbiert jene, die gut genug motorisiert sind, um sich von einem Zentrum
fernzuhalten, das zu einem Getto verkommt. Wachsende Beschleunigung
verschärft die Ausbeutung des Schwächeren in Illinois wie im Iran.
Vom Zeitalter des Cyrus bis zum Zeitalter der Dampfmaschine blieb die
Geschwindigkeit des Menschen unverändert. Nachrichten reisten nicht
schneller als 150 Kilometer pro Tag, ganz gleich wie die Botschaft
befördert wurde. Weder der Läufer des Inka noch die venetianische
Galeere, weder der persische Reiter noch die Postkutsche aus den Tagen Ludwigs
XIV, konnten diese Barriere durchbrechen. Krieger, Entdecker, Kaufleute und
Pilger legten dreißig Kilometer am Tag zurück. Wie Valéry
sagte, kam Napoleon immer noch mit der Langsamkeit Caesars voran: Napoléon
va à la même lenteur que César. Der Kaiser wußte,
daß der öffentliche Wohlstand am Einkommen der Postkutschen gemessen
wird (On mesure la prospérité publique aux comptes des
diligences) – aber er konnte diese kaum beschleunigen. Von Paris nach
Toulouse brauchte man zur Zeit der Römer 200 Stunden, und 1782 brauchte
die fahrplanmäßige Postkutsche immer noch 158 Stunden. Erst das 19.
Jahrhundert beschleunigte den Menschen. 1830 war die Reisezeit auf 110 Stunden
verringert, aber um einen neuen Preis: In diesem Jahr stürzten 1150
Kutschen um und verursachten mehr als tausend Todesfälle. Dann brachte die
Eisenbahn einen plötzlichen Wandel. 1855 konnte Napoleon III. behaupten,
er habe die Strecke Paris-Marseille im Zug mit einem Durchschnitt von 96 km/h
zurückgelegt. Zwischen 1850 und 1900 vermehrte sich die Produktion von
Passagier-Kilometern in Frankreich um das Hundertfache. Englands Eisenbahnnetz
erreichte 1893 seine größte Ausdehnung. Die Reisezüge
erreichten ihr Kostenoptimum, berechnet nach der für Unterhalt und Nutzung
aufgewandten Zeit. Mit der weiteren Beschleunigung begann der Transport das
Verkehrswesen zu beherrschen. Geschwindigkeit begann, Reiseziele hierarchisch
zu ordnen. Die Anzahl der angesetzten Pferdestärken bestimmt die Klasse
der reisenden Geschäftsführer mit einem Aufwand, den sich Könige
nicht träumen ließen. Jede Folge von Etappen degradiert jene, die
auf eine geringere Kilometerleistung pro Jahr festgelegt sind. Diejenigen, die
sich aus eigener Kraft fortbewegen müssen, sind nunmehr als
unterentwickelte Außenseiter definiert. Sage mir, wie schnell du reist, und
ich sage dir, wer du bist. Wer die Steuergelder in Anspruch nehmen kann, mit
denen die Concorde gespeiste wird, gehört zweifellos zur Spitze.
Im Laufe der letzten zwei Generationen wurde das Fahrzeug zum Symbol der
Karriere, genau wie die Schule zum Symbol des sozialen Startvorsprungs wurde.
Eine solche Konzentration der Macht muß ihre eigene Begründung
hervorbringen. In kapitalistischen Ländern wird die Verausgabung
öffentlicher Gelder, um einen Menschen jedes Jahr mehr Kilometer in
kürzerer Zeit reisen zu lassen, mit den noch größeren
Investitionen begründet, die aufgewandt wurden, um ihm eine längere
Ausbildung zu geben. Sein vermeintlicher Wert als kapitalintensives
Produktionsmittel bestimmt das Tempo, mit dem er befördert wird. Der hohe
soziale Wert des Wissens-Kapitalisten ist nicht die einzige brauchbare
Begründung für die privilegierte Würdigung der Zeit einer Elite.
Neben dem hohen Grad an Wissensbesitz sind andere ideologische Etiketten ebenso
nützlich, um die Kabinentür zu einem Luxus zu öffnen, den die
anderen bezahlen. Wenn es heute nötig ist, die Gedanken des Vorsitzenden
Mao im Düsenjet durch China zu hetzen, dann kann dies nur bedeuten,
daß jetzt schon zwei Klassen erforderlich sind, um das in Gang zu halten,
was diese Revolution auf einem langen Marsch geschaffen hat, zwei Klassen, von
denen die eine in der Geographie der Massen und die andere in der Geographie
der Kader lebt. Gewiß hat die Unterdrückung der Zwischenstufen von
Geschwindigkeit in der Volksrepublik China eine effizientere und rationalere
Konzentration der Macht ermöglicht, doch sie unterstreicht auch den neuen
Wertunterschied zwischen der Zeit des Ochsentreibers und der Zeit des
düsengetriebenen Funktionärs. Unweigerlich konzentriert die
Geschwindigkeitsbeschleunigung die Pferdestärken unter den Sitzen einiger
weniger und fügt zum sich verschärfenden Zeitmangel der meisten
Pendler das Gefühl des Zurückgebliebenseins hinzu.
Die Notwendigkeit ungleicher Privilegien in einer Industriegesellschaft
wird für gewöhnlich mit Hilfe einer zweiseitigen Argumentation
vertreten. Das Privileg wird als notwendige Vorbedingung für das wachsende
Wohlergehen der Gesamtbevölkerung akzeptiert, oder es wird als Instrument
für die Hebung des Lebensstandards einer benachteiligten Minorität
angepriesen. Die Scheinheiligkeit dieser Argumentation erweist sich klar am
Beispiel der „Geschwindigkeitsbeschleunigung“. Auf lange Sicht bewirkt der sich
beschleunigende Transport weder das eine noch das andere. Er schafft lediglich
eine universelle Nachfrage nach motorisierter Beförderung und trennt die
verschiedenen Schichten der Privilegierung durch bisher unvorstellbare
Höhenunterschiede. Jenseits einer bestimmten Stufe muß mehr Energie
mehr Ausbeutung bedeuten. Unbillige Begünstigung auf Kosten der Mehrheit
schwillt an mit dem Tempo des schnellsten Verkehrsmittels.
Wir sollten nicht übersehen, daß Spitzengeschwindigkeiten
für einige Wenige einen anderen Preis fordern als hohe Geschwindigkeiten
für alle. Die soziale Klassifikation nach Geschwindigkeitsstufen erzwingt
einen Netto-Transfer von Macht: Die Armen arbeiten und bezahlen, nur um
zurückzubleiben. Aber wenn die Mittelklassen einer beschleunigten
Gesellschaft vielleicht versucht sind, diese Diskriminierung zu ignorieren, so
können sie doch nicht die wachsenden Kosten unbegrenzt entragen.
Umweltzerstörung und die militärisch unterstütze Ausbeutung
begrenzter Rohstoffe sind Kosten, die derzeit in die Augen springen. Sie
könnten leicht einen noch fundamentaleren Preis der Beschleunigung
verdecken. Hohe Geschwindigkeiten für alle bedeuten, daß jedem
weniger Zeit für sich selbst bleibt, da die gesamte Gesellschaft einen
wachsenden Anteil der Verfügbaren Zeit für die Beförderung von
Menschen aufwendet. Fahrzeuge, welche die kritische Geschwindigkeit
überschreiten, haben nicht nur die Tendenz, Ungleichheit zu diktiert,
sondern sie schaffen auch notwendig eine sich selbst genügende Industrie,
die ein zweckwidriges Beförderungssystem unter dem Anschein technologischer
Raffinesse verbirgt. Ich bin der Meinung, daß eine
Geschwindigkeitsbegrenzung nicht nur zur Wahrung der Gerechtigkeit notwendig
ist; ebenso ist sie eine Bedingung für die Wirksamkeit der Verkehrsmittel:
für die Steigerung der in einer Gesellschaft zurückgelegten
Gesamtdistanz und für die Verringerung der in einer Gesellschaft für
Ortsveränderungen aufgewandten Zeit.
Die Auswirkungen der Fahrzeuge auf das 24-Stunden-Zeitbudget von Individuen
und Gesellschaften sind kaum erforscht. Verkehrsstudien liefern uns Statistiken
über den Zeitaufwand pro Kilometer, über den in Dollars gemessenen
Wert der Zeit oder über die Reisedauer. Doch diese Statistiken sagen
nichts über die verborgenen Transportkosten – darüber, wie der
Verkehr an der Lebenszeit nagt, über die Vervielfachung der durch die
Existenz von Fahrzeugen notwendig gewordenen Reisen, über die Zeit, die
direkt oder indirekt für die Vorbereitung von Ortswechseln aufgewandt
wird. Ferner gibt es keinen Maßstab für die noch tiefer verborgenen
Kosten des Transportwesens, etwa höhere Mieten in Gegenden, die
günstig an den Verkehrsstrom angeschlossen sind, oder die Kosten für
den Schutz dieser Gebiete vor dem durch Fahrzeuge verursachten Lärm,
Schmutz und vor den Gefahren für Leib und Leben. Das Fehlen einer Kostenrechnung
zum gesellschaftlichen Zeitbudget sollte uns jedoch nicht zu der Annahme
verleiten, daß eine solche Berechnung unmöglich sei, noch sollte sie
uns davon abhalten, aus dem wenigen, das wir wissen, Schlüsse zu ziehen.
Unsere beschränkten Informationen zeigen, daß überall auf der
Welt, nachdem ein Fahrzeug die Geschwindigkeitsbarriere von 25 km/h
überschritt, der verkehrsbedingte Zeitmangel zunahm. Nachdem die Industrie
diese Schwelle des Pro-Kopf-Ausstoßes erreicht hatte, machte der Verkehr
den Menschen zu einem Heimatlosen neuen Typus: einem Geschöpf, das dauernd
seinem Bestimmungsort fern ist und ihn aus eigener Kraft nicht erreichen kann,
doch täglich erreichen muß. Heute arbeiten die Menschen einen
erheblichen Teil des Tages, um das Geld zu verdienen, das sie brauchen, um
überhaupt zur Arbeit zu kommen. Seit zwei Generationen wächst in
Industrieländern die für den Arbeitsweg verwendete Zeit viel
schneller an, wie die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit schrumpft. Die Zeit, die
eine Gesellschaft für den Transport aufwendet, wächst proportional
zur Geschwindigkeit ihres schnellsten öffentlichen Verkehrsmittels. Auf
beiden Gebieten liegt Japan heute vor den USA in Führung. Die Lebenszeit
wird angefüllt mit durch den Verkehr erzeugten Aktivitäten, sobald
die Fahrzeuge die Schranke durchbrechen, welche die Menschen vor Entfremdung
und den Raum vor Zerstörung bewahrt.
Ob das auf der Landstraße dahinrasende Fahrzeug dem Staat oder dem
einzelnen gehört, ist kaum von Belang für die mit jeder
Geschwindigkeitssteigerung anwachsende Zeitknappheit und
Überprogrammierung. Um einen Menschen über eine gegebene Entfernung
zu befördern, benötigen Omnibusse nur ein Drittel der
Treibstoffmenge, die Pkw verbrennen. Pendelzüge sind bis zu zehnmal leistungsfähiger
als Autos. Sie verbrennen auch nicht pro Woche den Sauerstoff, den ein Mensch
für ein Jahr braucht. Beide könnten noch wirksamer und weniger
umweltschädigend eingesetzt werden. In öffentlichem Eigentum und mit
rationalem Management müssen sie so geplant und betrieben werden,
daß die Privilegien, die sie gegenwärtig in privatem Besitz und bei
inkompetenter Organisation schaffen, erheblich beschnitten werden könnten.
Doch solange irgendein Fahrzeugsystem sich unserer Gesellschaft durch seine
unbeschränkte Spitzengeschwindigkeit aufdrängt, ist die
Öffentlichkeit vor die Wahl gestellt, mehr Zeit aufzuwenden, um die
Beförderung von mehr Menschen von Tür zu Tür zu bezahlen, oder
mehr Steuern zu zahlen, damit einige in der Lage sind, in kürzerer Zeit
viel weiter zu reisen als andere. Die Größenordnung der innerhalb
eines Transportsystems zugelassenen Spitzengeschwindigkeit bestimmt, welchen
Anteil ihres Zeitbudgets eine Gesellschaft für den Verkehr aufwendet.
Es läßt sich nicht sinnvoll über eine wünschenswerte
Plafondierung der Fahrgeschwindigkeit diskutieren, ohne daß wir auf die
Unterscheidung zwischen Fortbewegung aus eigener Kraft – Transit – und
motorisiertem Transport zurückgreifen und vergleichen, welchen Beitrag
jedes dieser Elemente in bezug auf die Gesamtheit der menschlichen
Ortsveränderung, die ich als Verkehr bezeichnet habe, leistet.
Transport steht für die kapitalintensive Form des Verkehrs ein, und
Transit bezeichnet die arbeitsintensive Form. Transport ist das Produkt einer
Industrie, deren Kunden die Passagiere sind. Er ist eine industrielle Ware, und
daher allein schon „knapp“. Eine Verbesserung des Transports findet jeweils
unter den Bedingungen der Knappheit statt, die sich um so mehr verschärft,
als die Geschwindigkeit – und damit die Kosten – der Dienstleistung zunimmt.
Konflikte um einen unzulänglichen Transport tendieren dazu, die Form eines
Null-Summenspiels anzunehmen, bei dem der eine nur dann gewinnt, wenn der
andere verliert. Im besten Fall erlaubt ein solcher Konflikt eine Lösung
nach Art des von A. Rappaport beschriebenen Dilemmas, in dem zwei Gefangene
stehen: Wenn beide mit dem Gefängniswärter kooperieren, kommen beide
Gefangenen einer kürzeren Zeit in der Zelle davon.
Fortbewegung im Sinn von Transit ist nicht das Produkt einer Industrie,
sondern das autonome Unternehmen derer, die sich fortbewegen. Per
definitionem hat sie einen Gebrauchswert, braucht jedoch keinen Tauschwert
zu haben. Fortbewegung aus eigener Kraft beruht nicht auf Warentausch. Die
Fähigkeit, am Transit teilzunehmen, ist dem Menschen angeboren und mehr
oder minder gleich unter gesunden Individuen gleichen Alters verteilt. Die
Ausübung dieser Fähigkeit kann beschränkt werden, indem einer
bestimmten Klasse Menschen das Recht versagt wird, einen bestimmten Weg zu
nehmen, oder weil es einer Bevölkerung an Schuhen oder Wegen fehlt.
Konflikte über unzulängliche Transitbedingungen tendieren daher dazu,
die Form eines Nicht-Null-Summenspiels anzunehmen, bei dem die meisten
Teilnehmer an Beweglichkeit und Bewegungsraum gewinnen.
Die Gesamtheit des Verkehrs ist also das Ergebnis von zwei
grundverschiedenen Produktionsweisen: einer kapital- und einer
arbeitsintensiven Form. Diese können einander nur so lange harmonisch
ergänzen, wie die autonomen Produkte gegen das Eindringen des
Industrieprodukts geschützt werden.
Der Schaden, den unser heutiger Verkehr anrichtet, ist durch das
Transportmonopol bedingt. Der Reiz der Geschwindigkeit hat Nationen
fortschrittsgläubiger Passagiere verführt, sich auf die Versprechungen
einer Industrie einzulassen, die den kapitalintensiven Verkehr produziert. Der
Gewohnheits-Passagier ist überzeugt, daß die überschnellen
Fahrzeuge ihm einen Fortschritt über jene beschränkte Autonomie
hinaus ermöglichen, deren er sich erfreute, solange er sich aus eigener
Kraft fortbewegte. Er läßt zu, daß der geplante Transport
gegenüber der Alternative eines autonomen Transits dominiert. Die
Zerstörung der physischen Umwelt ist die noch am wenigsten schädliche
Folge dieses Zugeständnisses. Weit schwerwiegendere Folgen sind die
Vervielfachung der psychischen Frustration, die wachsenden Nachteile der
fortgesetzten Produktion und die Unterwerfung unter eine ungleiche
Machtverteilung – die sämtlich Manifestationen eines gestörten
Verhältnisses zwischen Lebenszeit und Lebensraum sind. Der Passagier in
einer durch den Transport entfremdeten Welt wird zu einem verstörten,
überlasteten Konsumenten von Entfernungen, die sich durch Güter und
Dienstleistungsproduktion stets ausdehnen.
Jede Gesellschaft, die den Zwang zur Beförderung diktiert,
unterdrückt den Transit zugunsten des Transports. Wo immer denen, die
keine überschnellen Beförderungsmittel benutzen, nicht nur
Privilegien, sondern auch elementare Bedürfnisse verweigert werden, wird
eine unfreiwillige Beschleunigung des individuellen Rhythmus erzwungen. Sobald
das tägliche Leben von motorisierter Beförderung abhängig wird,
beherrscht die Industrie den Verkehr. Diese tiefgreifende Herrschaft der
Transportindustrie über die natürliche Mobilität begründet
ein viel beherrschenderes Monopol als etwa das kommerzielle Monopol, das Ford
auf dem Automobilmarkt gewinnen könnte, oder das politische Monopol, das
die Automobilhersteller gegenüber der Entwicklung des Eisenbahn- oder
Busverkehrs ausüben mögen. Ford kann das Mittel zur Überwindung
einer Entfernung einem Monopol unterwerfen, und mittels der Bahn kann Fords
Monopol gebrochen werden. Das überschnelle Beförderungsmittel tut
mehr: es schafft entfremdende Entfernung. Wegen seines verborgenen und
tiefgreifend strukturierenden Charakters nenne ich es ein radikales Monopol.
Ein solches festbegründetes Monopol übt jede Industrie aus, sobald
sie zum dominierenden Mittel der Befriedigung von Bedürfnissen wird, die
vorher eine individuelle Reaktion auslösten. Der Zwangskonsum einer Ware
mit hohem Energieverbrauch (des motorisierten Transports) beschneidet die
Voraussetzungen für den Genuß eines reichlich vorhandenen Nutzwertes
(der angeborenen Fähigkeit zur Fortbewegung). Der Verkehr bietet darin das
Exempel eines allgemeinen ökonomischen Gesetzes: Jedes
Industrieprodukt, dessen Pro-Kopf-Verbrauch eine gegebene Höhe
überschreitet, übt ein radikales Monopol über die Befriedigung
eines Bedürfnisses aus. Jenseits einer gewissen Schwelle zerstört
der Schulzwang die Bedingungen des Lernens, veröden medizinische
Versorgungssysteme die nicht-therapeutischen Quellen der Gesundheit und
erstickt der Transport den Verkehr.
Zuerst wird das radikale Monopol errichtet durch eine Umordnung der
Gesellschaft zum Nutzen derer, denen die größere Quantität zur
Verfügung steht, sodann wird es verstärkt, indem alle gezwungen
werden, jene minimale Quantität zu konsumieren, in der das Produkt gerade
hergestellt wird. In Industriezweigen, in denen die Information dominiert, etwa
im Ausbildungs- oder medizinischen Sektor, wird der Zwangskonsum eine andere
Erscheinung annehmen als in solchen Zweigen, wo die Quantitäten mit dem
BTU (British Thermal Units)-Parameter gemessen werden können, etwa
Wohnungsbau, Bekleidungsindustrie oder Transport. Bei verschiedenen Produkten
wird die industrielle Wertzuweisung ihre kritische Intensität auf
verschiedenen Stufen erreichen, doch für jede wichtige Klasse von
Produkten liegt die Schwelle in einer theoretisch angebbaren
Größenordnung. Je höher die Geschwindigkeitsgrenze einer
Gesellschaft, um so bedrückender wird das Monopol des Transports. Die
Tatsache, daß es möglich ist, den Geschwindigkeitsbereich zu
bestimmen, in dem der Transport ein radikales Monopol über den Verkehr zu
gewinnen beginnt, besagt nicht, daß es auch möglich wäre,
einfach theoretisch zu bestimmen, für welche obere
Geschwindigkeitsschranke eine Gesellschaft sich entscheiden sollte. Keine
Theorie, sondern nur Politik kann bestimmen, ein wie starkes Monopol eine
gegebene Gesellschaft noch tolerieren will. Die Tatsache, daß es
möglich ist, eine Stufe der Zwangsunterweisung zu bestimmen, auf der
Lerneffekt durch Sehen und Tun im praktischen Leben abzunehmen beginnt,
befähigt den Theoretiker noch nicht, die spezifischen pädagogischen
Grenzen der Industrialisation zu bestimmen, die eine Kultur tolerieren kann.
Nur der Rekurs auf juridische und vor allem politische Verfahren kann zu
spezifischen, wenn auch provisorischen Maßstäben führen, durch
welche dem Tempo oder der Zwangsausbildung in einer Gesellschaft
tatsächlich eine Schranke gesetzt werden mag. Das Übergreifen des
radikalen Monopols läßt sich in einem theoretisch ausgebauten Schema
durch die soziale Analyse feststellen, aber das Ausmaß freiwilliger
Beschränkung läßt sich nur im politischen Prozeß freilegen.
Ein Industriezweig diktiert einer ganzen Gesellschaft ein radikales Monopol
nicht schon durch die einfache Tatsache, daß er knapp Produkte
produziert, oder weil er konkurrierende Industrieunternehmen vom Markt
verdrängt, sondern vielmehr kraft seiner erworbenen Fähigkeit, gerade
das Bedürfnis zu schaffen und zu formen, das er allein befriedigen kann.
Schuhe sind in ganz Lateinamerika knapp, und viele Menschen tragen niemals
welche. Sie gehen barfuß oder tragen ausgezeichnete Sandalen von
allerbreitester Vielfalt, die von den verschiedensten Handwerkern hergestellt
werden. Ihre Fortbewegung ist keineswegs durch die fehlenden Schuhe
beeinträchtigt. Doch in manchen südamerikanischen Ländern sind
die Menschen gezwungen, Schuhe zu tragen, seit Barfüßigen der
Zutritt zu Schulen, Arbeitsplätzen und allen öffentlichen Ämtern
verwehrt ist. Lehrer oder Parteifunktionäre fassen das Fehlen von Schuhen
als Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber dem „Fortschritt“ auf.
Ohne jede absichtliche Verschwörung zwischen den Förderern der
nationalen Entwicklung und der Schuhindustrie sind die Barfußgehenden in
diesen Ländern von jedem wichtigeren Amt ausgeschlossen.
Wie Schuhe, so waren auch Schulen zu allen Zeiten knapp. Doch nie kam es
vor, daß die geringe Zahl privilegierter Schüler die Schule in ein
Lernhemmnis verwandelte. Erst als Gesetze erlassen wurden, die
beschränkten Schulzwang und unbeschränkte Gebührenfreiheit
einführten, gewann der Erzieher die Macht, den Unterkonsumenten von
Ausbildungstherapien die Lernchancen am Arbeitsplatz zu verwehren. Erst nachdem
der Schulbesuch obligatorisch geworden war, wurde es möglich, allen eine
zunehmend komplexere, geplante Umwelt aufzuzwingen, in die die Ungebildeten und
Unprogrammierten nicht hineinpaßten.
Im Fall des Verkehrs sind die Möglichkeiten eines radikalen Monopols
nicht zu übersehen. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn die
Transportindustrie ihr Produkt irgendwie adäquater verteilen könnte:
Ein Verkehrsutopia der kostenlosen schnellen Beförderung für alle
würde unvermeidlich zu einer weiteren Expansion der Beherrschung des
menschlichen Lebens durch den Verkehr führen. Wie würde solch ein
Utopia aussehen? Der Verkehr würde ausschließlich in
öffentlichen Transportsystemen organisiert. Er würde durch eine
progressive Besteuerung finanziert, die nach dem Einkommen und der Nähe
des Wohnorts zur nächsten Zusteigestation und zum Arbeitsplatz berechnet
würde. Er würde so programmiert, daß jeder nach dem Prinzip:
wer zuerst kommt, fährt zuerst, einen Platz beanspruchen könnte – dem
Arzt, dem Urlauber und dem Präsidenten würden keinerlei individuelle
Vorrechte zugestanden. In diesem Narrenparadies wären alle Reisenden
gleich, aber sie wären auch gleichermaßen Gefangene des
Transportkonsums. Jedem Bürger eines motorisierten Utopia wäre der
Gebrauch seiner Füße verwehrt, und er würde in die Sklaverei
der wuchernden Transportnetze geführt.
Manche als Architekten maskiert Möchtegern-Wundertäter weisen
einen trügerischen Ausweg aus dem Dilemma der Geschwindigkeit. Nach ihrer
Auffassung diktiert die Beschleunigung nur deshalb Ungerechtigkeit, Zeitverlust
und kontrollierte Fahrpläne, weil die Menschen noch nicht in jenen Formen
und Bahnen leben, in die die Fahrzeuge sie ohne weiteres versetzen können.
Diese futuristischen Architekten möchten die Menschen in autarken
Turmeinheiten wohnen und arbeiten lassen, welche durch Schienen für
superschnelle Kabinen miteinander verbunden sind. Soleri, Doxiadis oder Fuller
möchten das durch den superschnellen Transport geschaffene Problem dadurch
lösen, daß sie den gesamten Lebensbereich des Menschen in das
Problem einbeziehen. Statt zu fragen, wie die Erdoberfläche für den
Menschen erhalten werden kann, fragen sie, wie Reservate auf einer Erde
geschaffen werden können, die um industrieller Produkte willen deformiert
wurde.
Jede auf ein verkehrsgerechtes Optimum begrenzte Geschwindigkeit erscheint
dem eingeschworenen Passagier als ein kapriziöses oder fanatisches
Unterfangen, während sie dem Eseltreiber wie der Vogelflug erscheint. Die
vier- bis sechsfache Geschwindigkeit eines Fußgängers stellt eine
Schwelle dar, die vom Gewohnheitsreisenden für zu niedrig erachtet wird,
um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden, und die für zwei
Drittel der Menschheit, die sich immer noch aus eigener Kraft fortbewegen, zu
hoch ist, um den Sinn einer Beschränkung zu haben.
Alle, die das Wohnen, den Transport und die Ausbildung planen, gehören
zur Klasse der Beförderungsverbraucher. Ihr Machtanspruch leitet sich vom
Wert ab, den ihre staatlichen oder privaten Arbeitgeber der Beschleunigung von
Eliten beimessen. Der Sozialwissenschaftler kann ein Computermodell des
Verkehrs in Kalkutta oder Santiago ausarbeiten; Ingenieure können nach
abstrakten Vorstellungen vom Verkehrsfluß Einschienenbahnnetze planen.
Ihr Glaube an die Effektivität der Macht macht sie blind für die
überproportional größere Effektivität des Verzichts auf
ihren Einsatz. Mit gewaltiger Energie vergrößern sie Probleme, die
nur der Verzicht lösen kann. Es fällt ihnen nicht ein, der
Beschleunigung zu entsagen und um der Möglichkeit eines optimalen
Verkehrsflusses willen so wenig wie möglich und so langsam wie
möglich zu fahren. Sie kämen nie auf den Gedanken, einen Computer
unter der Vorgabe zu programmieren, daß in der Stadt kein Fahrzeug
schneller als mit der Geschwindigkeit eines Fahrrads fahren sollte. Ein
mechanistisches Vorurteil verhindert es bisher, die beiden Komponenten des
Verkehrs in ein und demselben Verkehrs-Simulationsmodell zu optimieren. Der
Entwicklungsexperte, der von seinem Land-Rover mitleidig auf den indianischen
Bauern hinabblickt, der seine Schweine zum Markt treibt, ist nicht bereit, die
relativ Überlegenheit der Füße anzuerkennen. Der Experte ist
geneigt zu vergessen, daß dieser Mann zu dem Zehntel der Mitbewohner
seines Dorfes gehört, die ihre Zeit auf der Straße vertun,
während der Ingenieur und alle Mitglieder seiner Familie gezwungen werden,
einen großen Teil jedes Tages dem Verkehr zu opfern. Für einen Mann,
der glaubt, sich die menschliche Mobilität nur im Sinn eines unbegrenzten
Fortschritts vorstellen zu können, kann es kein optimales Verkehrsniveau,
sondern nur einen flüchtigen Konsensus über eine gegebene Stufe der
technischen Entwicklung geben. Der Träger von Entwicklungswut und der von
ihm infizierte afrikanische Kollege wird für die optimale Wirksamkeit
karger Technologie blind. Beschränkung des Energieverbrauches kommt
für sie wohl in Betracht, um die Umwelt zu schützen; einfache
Technologie, um provisorisch die Armen zu beschwichtigen; Geschwindigkeitsgrenzen,
damit mehr Autos auf weniger Asphalt rollen. Aber Selbstbeschränkung, um
das Mittel davor zu bewahren, daß es seinen Eigenzweck verliere, das
liegt außerhalb seines Horizonts.
Die meisten Mexikaner, ganz zu schweigen von Indern und Afrikanern, finden
sich in einer ganz anderen Situation als der eingefleischte
Transport-Konsument. Für sie liegt die kritische Schwelle gänzlich
jenseits dessen, was alle mit Ausnahme einiger weniger kennen oder erwarten.
Sie gehören immer noch zur Klasse derer, die sich aus eigenem Antrieb
fortbewegen. Manche von ihnen bewahren die Erinnerung an ein motorisiertes
Abenteuer, doch die meisten von ihnen haben nie selbst die Erfahrung gemacht,
sich der kritischen Geschwindigkeit zu bedienen. In den beiden typischen
mexikanischen Staaten Guerrero und Chiapas bewegten sich im Jahr 1970 weniger
als ein Prozent der Bevölkerung auch nur ein einziges Mal in weniger als
einer Stunde weiter als 15 Kilometer. Die Fahrzeuge, in denen die Bewohner
dieser Gegenden mitunter eingepfercht sind, machen das Reisen tatsächlich
etwas bequemer, doch kaum schneller als mit dem Fahrrad. Der Bus dritter Klasse
trennt den Bauern nicht von seinem Schwein, und er bringt sie beide ohne
Gewichtsverlust auf den Markt; doch dieser Kontakt mit dem motorisierten
„Komfort“ führt noch nicht zur Abhängigkeit von einer destruktiven
Geschwindigkeit. Die Diskussion einer schon jetzt nötigen
Geschwindigkeitsschranke, um den Fortschritt im Dienst der Mehrheit zu halten,
ist hier fast ebenso schwierig, wie an einer technischen Hochschule.
Die Größenordnung, in der die kritische Geschwindigkeitsgrenze
zu finden wäre, ist zu niedrig, um vom Gewohnheitspassagier ernst genommen
zu werden, und zu hoch, um für den Bauern von Belang zu sein. Sie ist so
offenbar, daß sie nicht leicht wahrgenommen werden kann.
Verkehrsforschung heißt weiterhin Dienst an der
Beförderungsindustrie. Der Vorschlag einer Geschwindigkeitsbegrenzung in
dieser Größenordnung trifft deshalb auf hartnäckigen Widerstand.
Er enthüllt die Sucht des industrialisierten Menschen, immer höhere
Energiedosen zu konsumieren, während er von denen, die noch nüchtern
sind, verlangt, auf etwas zu verzichten, das sie noch nicht gekostet haben.
Der Vorschlag, Gegenforschung im Dienst der Person zu treiben, ist nicht
nur ein Skandal, sondern auch eine Bedrohung. Einfachheit bedroht den Experten,
der angeblich genau weiß, warum der Pendelzug um 8.15 und um 8.41
verkehrt, und warum es besser sein mag, einen Treibstoff mit bestimmten
Zusätzen zu verwenden. Die Vorstellung, daß ein politischer
Prozeß eine sowohl unabdingbare als auch natürliche Größe
bestimmen könnte, liegt außerhalb der Wertskala und Begriffswelt des
Verbrauchers. Er läßt zu, daß sein Respekt vor Spezialisten,
die er nicht einmal kennt, in gedankenlose Unterwerfung umschlägt. Wenn es
möglich wäre, für die von Experten auf dem Gebiet des Verkehrs
geschaffenen Probleme eine politische Lösung zu finden, dann könnte
vielleicht dasselbe Heilmittel auf Probleme der Ausbildung, der Medizin oder
der Urbanisierung angewandt werden. Könnte die Größenordnung
der optimalen Verkehrsgeschwindigkeit von Fahrzeugen durch Laien, die aktiv an
einem dauernden politischen Prozeß teilnehmen, bestimmt werden, dann
würden die Fundamente, auf denen das Gerüst jeder Industriegesellschaft
ruht, erschüttert. Eine solche Forschung vorzuschlagen, ist politisch
subversiv. Sie stellt den umfassenden Konsensus in Frage, der es den heutigen
politischen Widersachern erlaubt, sich als glaubwürdige Antagonisten
auszugeben.
Grade der Mobilität („Narrenlob“ des Fahrrads)
Von einem Jahrhundert wurde das Kugellager erfunden. Es verringerte den
Reibungskoeffizienten um das Tausendfache. Durch das Anbringen eines gut
geeichten Kugellagers zwischen zwei neolithischen Mühlsteinen kann ein
Inder heute an einem Tag so viel Korn mahlen wie seine Vorfahren in einer
Woche. Das Kugellager ermöglichte das Fahrrad. Das „Rad“, der
Rollkörper – wohl die letzte der großen neolithischen Erfindungen –
wurde schließlich nutzbar für die aus eigener Kraft getriebene
Mobilität. Das Kugellager ist hier Symbol für einen endgültigen
Bruch mit der Tradition und für die entgegengesetzten Richtungen, in die
Entwicklung führen kann. Ohne Geräte kommt der Mensch recht gut
zurecht. Er befördert ein Kilogramm seines Gewichts in 10 Minuten einen
Kilometer weit und verausgabt dabei 0,75 Kalorien. Der zu Fuß gehende
Mensch ist thermodynamisch leistungsfähiger als jedes Motorfahrzeug und
die meisten Tiere. Im Verhältnis zu seinem Gewicht leistet er mehr
Bewegungsarbeit als die Ratte oder der Ochse und weniger als das Pferd oder der
Stör. Mit diesem Maß an Leistung besiedelte der Mensch die Erde und
machte seine Geschichte. In diesem Maß verbringen bäuerliche
Gesellschaften weniger als 5 % und Nomaden weniger als 8 % ihres jeweiligen
gesellschaftlichen Zeithaushalts im Verkehr außerhalb des Hauses oder
Lagers.
Auf dem Fahrrad kann der Mensch sich drei- bis viermal schneller
fortbewegen als der Fußgänger, doch er verbraucht dabei fünfmal
weniger Energie. Auf flacher Straße bewegt er ein Gramm seines Gewichts
einen Kilometer weit unter Verausgabung von nur 0,15 Kalorien. Das Fahrrad ist
der perfekte Apparat, der die metabolische Energie des Menschen befähigt,
den Bewegungswiderstand zu überwinden. Mit diesem Gerät ausgestattet,
übertrifft der Mensch nicht nur die Leistung aller Maschinen, sondern auch
die aller Tiere.
Die Erfindung des Kugellagers, des Tangentenspeichenrades und des
pneumatischen Reifens zusammen können nur mit drei anderen Ereignissen in
der Geschichte des Transports verglichen werden: Die Erfindung des Rades beim
Anbruch der Zivilisation nahm die Last von den Schultern des Menschen und lud
sie auf den Schubkarren. Im europäischen Mittelalter steigerte die
Erfindung und gleichzeitige Anwendung der Trense, des Schultergeschirrs und des
Hufeisens die thermodynamische Leistung des Pferdes um das bis zu
Fünffache und veränderte die Ökonomie des mittelalterlichen
Europa. Sie ermögliche ein häufiges Pflügen und eröffnete
damit die rotierende Fruchtfolge. Sie versetzte weiter entfernte Felder in die
Reichweite des Bauern, und erlaubte damit der Landbevölkerung, aus Weilern
mit 6 Familien in 100-Familien-Dörfer zu ziehen, in den Umkreis der
Kirche, des Marktplatzes, des Gefängnisses und später der Schule. Sie
ermöglichte die Kultivierung im Norden gelegener Böden und verlagerte
das Zentrum der Macht in die kalten Klimazonen. Und schließlich schuf der
Bau der ersten hochseetüchtigen Frachtschiffe durch die Portugiesen im 15.
Jahrhundert unter der Ägide des sich entfaltenden europäischen
Kapitalismus die Grundlagen einer weltumspannenden Marktwirtschaft und den
modernen Imperialismus.
Die Erfindung
des Kugellagers läutete eine vierte Revolution ein. Es ermöglichte
die Wahl zwischen mehr Freiheit und Gerechtigkeit einerseits und höherer
Geschwindigkeit und Ausbeutung andererseits. Das Kugellager ist ein gleich
wichtiger, fundamentaler Bestandteil der zwei Formen der Fortbewegung, die
durch das Fahrrad bzw. das Auto symbolisiert werden. Das Fahrrad erhob die
autogene Mobilität des Menschen in eine neue Ordnung, jenseits derer ein
Fortschritt theoretisch kaum noch möglich ist. Im Gegenteil, die sich
beschleunigende individuelle Fahrgastzelle befähigte die Gesellschaften,
ein Ritual der zunehmend paralysierenden Geschwindigkeit zu befolgen.
Das Monopol der rituellen Anwendung eines potentiell nützlichen
Geräts ist keine neue Erscheinung. Vor Jahrtausenden nahm das Rad dem
Trägersklaven seine Last ab, doch dies geschah nur auf der eurasischen
Landmasse. In Mexiko war das Rad wohlbekannt, doch wurde es nie zum Transport
verwendet. Es diente ausschließlich zur Herstellung von Wägelchen
für Spielzeug-Idole. Die Tabuisierung des Räderkarrens in Amerika vor
Cortés ist nicht weniger erstaunlich als die Tabuisierung des Fahrrads
im modernen Verkehr.
Es ist keineswegs notwendig, daß die Erfindung des Kugellagers
weiterhin der Steigerung des Energieverbrauchs dient und damit Zeitmangel,
Raumvergeudung und Klassenprivilegien schafft. Würde die neue Ordnung der
auf eigener Kraft beruhenden Mobilität, die das Fahrrad bietet, vor
Abwertung und Paralysierung sowie gegen das Risiko für Leib und Leben des
Fahrers geschützt, dann wäre es möglich, allen eine optimale
gemeinsame Mobilität zu garantieren und das Diktat der maximalen
Privilegierung und Ausbeutung zu beenden. Es wäre möglich, die Formen
der Urbanisierung zu kontrollieren, wenn nur die Strukturierung des Raumes in
Übereinstimmung mit der Fähigkeit des Menschen, sich in ihm zu
bewegen, erfolgte. Absolute Geschwindigkeitsbegrenzung ist wohl die
durchschlagendste Form der Raumplanung und Raumordnung. Das Kugellager ist
ambivalent zu seiner Verwendung in eitel oder in würdig angewandter
Technik.
Fahrräder sind nicht nur thermodynamisch effizient, sie sind auch
billig. Der Chinese mit seinem viel geringeren Lohn erwirbt sein langlebiges
Fahrrad in einem Bruchteil der Arbeitszeit, die der Amerikaner für den
Kauf seines schnell veraltenden Autos aufwendet. Die Ersparnis, die sich aus
einem Vergleich der Kosten für die zur Ermöglichung des Fahrradverkehrs
notwendigen öffentlichen Einrichtungen mit dem Preis für eine auf
hohe Geschwindigkeiten abgestimmte Infrastruktur ergibt, ist noch
größer als der Preisunterschied zwischen den bei beiden Systemen
verwendeten Fahrzeugen. Beim Fahrradsystem sind befestigte Straßen nur an
bestimmten Punkten mit dichtem Verkehr vonnöten, und Menschen, die von
Wegen mit festem Belag weiter entfernt wohnen, sind damit nicht automatisch
isoliert, wie sie es wären, wenn sie von Autos oder Zügen abhängig
sind. Das Fahrrad hat den Radius des Menschen erweitert, ohne ihn auf
Straßen zu verbannen, auf denen er nicht laufen darf. Normalerweise kann
er das Fahrrad dort schieben, wo er nicht fahren kann.
Das Fahrrad benötigt auch wenig Raum. Achtzehn Fahrräder
können auf der Fläche geparkt werden, die ein Auto beansprucht,
dreißig Räder können auf dem Raum fahren, den ein einziges
Automobil braucht. Es werden zwei Fahrspuren einer gegebenen Breite
benötigt, um 40 000 Menschen mit modernen Zügen innerhalb einer
Stunde über eine Brücke zu befördern, vier um sie in Bussen zu
fahren, zwölf um sie in Pkw zu befördern und wieder nur zwei, um auf
Fahrrädern hinüberzuradeln. Unter all diesen Fahrzeugen erlaubt nur
das Fahrrad dem Menschen wirklich, von Tür zu Tür zu fahren, wann
immer, und über den Weg, den er wählt. Der Radfahrer kann neue Ziele
seiner Wahl erreichen, ohne daß sein Gefährt einen Raum
zerstört, der besser dem Leben dienen könnte.
Fahrräder ermöglichen es dem Menschen, sich schneller
fortzubewegen, ohne nennenswerte Mengen von knappem Raum, knapper Energie oder
knapper Zeit zu beanspruchen. Er benötigt weniger Stunden pro Kilometer
und reist doch mehr Kilometer im Jahr. Er kann den Nutzen technologischer
Errungenschaften genießen, ohne die Pläne, die Energie oder den Raum
anderer übermäßig zu beanspruchen. Er wird Herr seiner
Bewegung, ohne die seiner Mitmenschen wesentlich zu beeinträchtigen. Sein
neues Werkzeug schafft nur solche Bedürfnisse, die es auch befriedigen
kann. Jede Steigerung der motorisierten Beschleunigung schafft neue
Ansprüche an Raum und Zeit. Die Verwendung des Fahrrads beschränkt
sich von selbst.
Kugellager und Pneu erlauben den Menschen, ein neues Verhältnis
zwischen ihrem Lebensraum und ihrer Lebenszeit, zwischen ihrem Territorium und
dem Rhythmus ihres Seins zu schaffen, ohne Raumzeit und biologisches Tempo
voneinander zu reißen. Diese Vorteile des modernen, von eigener Kraft
angetriebenen Verkehrs sind offensichtlich – aber sie werden weitgehend
ignoriert. Das Kugellager steht immer mehr ausschließlich im Dienst der
Maschine. Daß ein besserer Verkehr immer schneller rollt, wird zwar oft
behauptet, jedoch nie bewiesen. Ein Grund hierfür ist wohl, daß die
Beweisführung klar aufzeigen würde, für wie wenige heute
schneller Verkehr besser ist. Das Gegenteil kann leicht bewiesen werden, wird
heute noch zögernd hingenommen und wird wohl sehr bald offensichtlich
sein.
Ein grausamer Wettkampf zwischen Fahrrad und Motor ging soeben zu Ende. In
Vietnam versuchte eine hyperindustrialisierte Armee ein auf Grund der Fahrradgeschwindigkeit
organisiertes Volk zu unterwerfen – doch sie konnte es nicht besiegen. Dies ist
eine deutliche Lektion. Armeen mit großem Energiepotential können
Menschen auslöschen – sowohl diejenigen, die sie verteidigen, als auch diejenigen,
gegen die sie eingesetzt werden –, doch sie sind von sehr beschränktem
Nutzen für ein Volk, das sich selbst verteidigt. Das vietnamesische Volk
hätte schon lange verloren, hätte seine Armee sich befördern
lassen. Es bleibt abzuwarten, ob die Vietnamesen das, was sie im Krieg taten,
auf eine Friedenswirtschaft anwenden werden, ob sie bereit sein werden, die
Werte zu bewahren, die ihren Sieg ermöglichten. Es besteht wohl die
düstere Aussicht, daß die Sieger, im Namen des industriellen
Fortschritts und des gesteigerten Energieverbrauchs, sich selbst eine
Niederlage beibringen werden, indem sie jene Schranken der Gerechtigkeit,
Rationalität und Autonomie brechen, welche die amerikanischen Bomber ihnen
aufzwangen, als sie ihnen Treibstoffe, Motoren und Straßen raubten.
Die Menschen werden mit beinah gleicher Mobilität geboren. Ihre
natürliche Befähigung spricht für die individuelle Freiheit
eines jeden, zu gehen, wohin immer er oder sie will. Die Bürger einer auf
den Begriff der Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit
gegründeten Gesellschaft werden den Schutz dieses Rechtes gegen jegliche
Beschneidung fordern. Für sie sollte es gleichgültig sein, durch
welche Mittel die Ausübung der individuellen Bewegungsfreiheit verwehrt
wird – sei es Gefängnishaft, Bindung an einen Grundherrn, Einziehung des
Reisepasses oder die Fesselung an eine Umwelt, die die angeborene
Fähigkeit des einzelnen zur Fortbewegung beeinträchtigt, um ihn zum
Konsumenten des Transports zu machen. Dieses unveräußerliche Recht
der Bewegungsfreiheit, Bewegungsgleichheit und Bewegungsfreude geht nicht
einfach dadurch verloren, daß die meisten Zeitgenossen sich in
ideologische Sicherheitsgurte geschnallt haben. Die natürliche
Fähigkeit des Menschen zur Fortbewegung erscheint als der einzige
Maßstab, an dem der Beitrag der Transportmittel zum Verkehr zu bewerten
ist: Es gibt nur so viel Transport, wie der Verkehr verträgt. Es bleibt zu
zeigen, wie wir solche Formen des Transports, die die Bewegungsfähigkeit
verkrüppeln, von jenen unterscheiden können, die sie vermehren.
Der Transport kann den Verkehr auf dreierlei Weise beeinträchtigen:
durch die Unterbrechung des Verkehrsflusses, durch die Schaffung von isolierten
Bestimmungswelten und durch die Vermehrung der verkehrsbedingten Zeitverluste.
Ich habe bereits festgestellt, daß der Schlüssel zum Verhältnis
zwischen Transport und Verkehr in der Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge
liegt. Ich habe nachgewiesen, wie der Transport jenseits einer bestimmten
Geschwindigkeitsschwelle den Verkehr behindert. Er blockiert die
Mobilität, indem er die Umwelt mit Fahrzeugen und Straßen
vollstopft. Er verwandelt die Geographie in eine Pyramide von Verkehrskreisen,
die je nach Beschleunigungsstufe hermetisch voneinander abgeschlossen sind. Im
Dienst der Geschwindigkeit raubt er Lebenszeit.
Wenn der Transport jenseits einer gewissen Schwelle den Verkehr
beeinträchtigt, so gilt auch das Gegenteil: Unterhalb einer bestimmten
Geschwindigkeitsstufe können Motorfahrzeuge den täglichen Pendelverkehr
ergänzen oder verbessern, indem sie es den Menschen ermöglichen,
Dinge zu tun, die sie zu Fuß oder auf dem Fahrrad nicht oder nur
mühsam vollbringen könnten. Motorfahrzeuge können Verwendung
finden, um die Lahmen, die Kranken, die Alten oder die einfach Müden zu
befördern. Motorlifte und Rampen können Menschen und ihre Räder
auf einen Berg schleppen. Züge können dem täglichen Kreislauf
dienen, aber nur dann, wenn sie nicht letztlich Bedürfnisse schaffen, die
sie nicht sättigen können; und diese Gefahr besteht, sobald
Transporte auf dem Arbeitsweg Fahrräder überholen.
Noch einleuchtender ist wohl der Dienst des Fahrzeuges für den
Passagier, der nicht auf dem täglichen Arbeitsweg, sondern auf Reisen ist.
Bis zur Zeit der Dampfmaschine war der Reisende froh, zu Schiff, mit dem Pferd
oder in der Kutsche fünfzig Kilometer am Tag hinter sich zu bringen - zwei
Kilometer pro peinlicher Reisestunde. Das englische Wort „travel“ erinnert noch
daran, wie schmerzvoll Reisen waren: es kommt vom „trepalium“, dem dreizackigen
Pfahl, der Tötung am Kreuz im frühen Mittelalter als Marterwerkzeug
ersetzte. Man vergißt heute leicht, daß 25 Stundenkilometer im
gefederten Waggon einen bis vor kurzem undenkbaren „Fortschritt“ bedeuten.
Ein modernes Transportsystem mit dieser Beförderungsgeschwindigkeit
hätte es Inspektor Fix ermöglicht, Phileas Fogg in weniger als der
Hälfte von achtzig Tagen um die Welt zu jagen. Reisen innerhalb dieser
Grenzen geht auf die Zeitkosten des Fahrgastes: Es ist arbeitsintensiv in der
Produktion und zeitfüllend für den Passagier.
Eine Beschränkung der Energie und damit der Geschwindigkeit der
Motoren allein sichert noch nicht die Schwächeren gegen die Ausbeutung
durch die „Reichen und Mächtigen“, die immer noch Mittel und Wege finden
können, um an günstiger gelegenen Orten zu leben und zu arbeiten,
regelmäßig in plüschgepolsterten Wagen zu reisen und eine
besondere Fahrspur für Ärzte und Mitglieder des Zentralkomitees zu
reservieren. Aber bei einer hinlänglich beschränkten
Maximalgeschwindigkeit sind dies Ungerechtigkeiten, die sich durch eine
Kombination von Steuern und technischen Hilfsmitteln verringern oder sogar
ausgleichen lassen. Bei unbeschränkten Spitzengeschwindigkeiten
können weder das öffentliche Eigentum der Transportmittel noch
technische Verbesserungen ihrer Kontrolle je die zunehmende, ungleiche
Ausbeutung beseitigen. Eine Transportindustrie ist der Schlüssel zur
optimalen Produktion von Verkehr, doch nur wenn sie nicht ein radikales Monopol
über die individuelle Produktivität ausübt.
Die Kombination von Transport und Transit, die den Verkehr konstituiert,
bot uns ein Beispiel für einen gesellschaftlich optimalen Energieverbrauch
pro Kopf und für die Notwendigkeit, diesem politisch definierte Schranken
aufzuerlegen. Der Verkehr ist auch ein Modell für die Konvergenz weltweit
gültiger Entwicklungsziele und ein Kriterium, an Hand dessen sich die
Länder, die bedrückend untertechnisiert sind, von denen unterscheiden
lassen, die zerstörerisch überindustrialisiert sind.
Ein Land muß dann als untertechnisiert bezeichnet werden, wenn es
nicht in der Lage ist, jedem Bürger das für ihn geeignete „Fahrrad“
zu Verfügung zu stellen. Es ist untertechnisiert, wenn es nicht gute
„Fahrradstraßen“ bereitstellen kann und karg bemessene, kostenlos
verwendbare Hilfsmotoren. Es gibt keinen technischen, ökonomischen oder
ökologischen Grund, warum wir uns im Jahr 1975 irgendwo auf der Welt mit
einer solchen Rückständigkeit abfinden sollten. Es wäre eine Schande,
wenn die natürliche Beweglichkeit der Menschen gegen ihren Willen auf
einer niedrigeren Stufe als der optimalen stagnieren müßte.
Ein Land ist als überindustrialisiert zu bezeichnen, wenn sein
gesellschaftliches Leben von einer Transportindustrie beherrscht wird, welche
die Macht besitzt, Klassenprivilegien zu statuieren, den Zeitmangel zu
akzentuieren und die Menschen straff an Fahrbahnen und Fahrpläne zu
fesseln. Untertechnisierung und Überindustrialisierung scheinen heute die
beiden Pole möglicher Entwicklung zu sein. Aber jenseits ihres
Spannungsfeldes liegt doch noch die Welt reifer Technik, der Raum
post-industrieller Effektivität, in der die karge Bemessung der Technik
die würgend knappe Warenzuteilung überwindet, die das notwendige
Resultat technischer Hybris ist. Reife Technik setzt dem Motor die Grenzen,
außerhalb derer er zum Herrn wird; reife Ökonomie setzt
industrieller Produktion jene Schranken, innerhalb derer sie die autonomen
Formen der Produktion stärkt und ergänzt. Auf den Verkehr übertragen
ist das die „Welt des Fahrrades“ und der langen Reise, der anarchischen, aber
modernen Effizienz, der offenen Welt und der freien Begegnung.
Untertechnisierung ist für den heutigen Menschen ein Grund, sich
machtlos den Gewalten von Natur und Gesellschaft ausgeliefert zu fühlen.
Überindustrialisierung nimmt dem Menschen die Macht, wirkliche
Entscheidungen zu treffen über alternative Arten der Produktion, der
Politik und des Lebens. Überindustrialisierung diktiert den sozialen Beziehungen
ihre technischen Merkmale. Die Welt der technologischen Reife läßt
eine Vielzahl von politischen Alternativen und Kulturen zu. Diese Vielfalt
schwindet selbstverständlich, sobald die Gesellschaft der Industrie ein
Wachstum auf Kosten der autonomen Produktion von Nutzwerten gestattet.
Wie schon
gesagt, kann die Theorie allein keinen exakten Maßstab für das
Niveau der einer konkreten Gesellschaft angemessenen postindustriellen
Effektivität und technischen Reife bieten. Sie kann beiläufig die
Dimensionen des Bereichs angeben, dem diese technischen Merkmale sich
einfügen müssen. Es muß einer ihre eigene Politik betreibenden
historischen Gesellschaft überlassen bleiben zu entscheiden, wann die
Programmierung, die Zerstörung des Raumes, die Zeitknappheit und die
Ungerechtigkeit nicht mehr dafürstehen. Die Theorie kann die
Geschwindigkeit als kritischen Faktor des Verkehrs bestimmen. Sie kann die
Notwendigkeit für karg bemessene Technik beweisen. Sie kann nicht
politisch durchführbare Schranken festsetzen. Das Kugellager fordert
entweder ein neues politisches Bewußtsein, das die Werkzeuge der
Gesellschaft in Maßen hält, oder es beschwört
techno-faschistische Diktatur herauf.
Es gibt zwei Wege zur Erreichung der technologischen Reife: der eine ist
die Befreiung vom Überfluß; der andere die Befreiung vom Wunschtraum
des Fortschritts. Beide Wege führen zu demselben Ziel: der sozialen
Rekonstruktion des Raumes, die jedem einzelnen die immer wieder neue Erfahrung
vermittelt, daß dort, wo er steht, geht und lebt, der Mittelpunkt der Welt
ist.
Die Befreiung vom Überfluß muß auf den Verkehrsinseln der
Großstädte beginnen, wo die „Überentwickelten“
übereinander stolpern. Die Reichen lassen sich von hier aus mit hoher
Geschwindigkeit von einem solchen Treffpunkt zum anderen katapultieren und
leben in der Gesellschaft von Mitreisenden, von denen jeder woandershin
unterwegs ist. Die Armen im reichen Land werden unentwegt innerhalb der eigenen
Stadt verschifft und verfrachtet auf Kosten ihrer Muße und Geselligkeit.
Der Neger und der Manager, der Fabrikarbeiter und der Kommissar werden so durch
Beförderungsverbrauch vereinsamt. Diese Einsamkeit des Überflusses,
an der arm und reich leiden, kann sich nur lösen, wenn die Verkehrsinseln
innerhalb der Großstadt sich allmählich ausdehnen, und wenn transportmittelfreie
Zonen den Menschen helfen, ihre angeborene Macht über den Raum
wiederzuentdecken. So können in der ausgelaugten Umwelt der
Industriestädte Anfänge der sozialen Rekonstruktion enthalten sein,
und jene, die sich heute reich nennen, werden die Fessel des
übereffizienten Transports an dem Tag zerbrechen, an dem sie den nunmehr
voll erblühten Horizont ihrer Verkehrsinsel schätzen und häufige
Verfrachtungen in die Fremde fürchten lernen.
Die Befreiung vom Wunschtraum der Bereicherung setzt am anderen Ende ein.
Sie durchbricht die Beengtheit von Dorf und Tal und führt aus der
Langeweile enger Horizonte und der lähmenden Bedrücktheit einer in
sich abgeschlossenen Welt hinaus. Die Erweiterung des Lebens über den
Umkreis der Tradition ist ein Ziel, das jedes arme Land binnen weniger Jahre
erreichen könnte, doch dieses Ziel wird nur von denen erreicht werden, die
das im Namen einer Ideologie des unbegrenzten Energiekonsums ergangene Angebot
einer unkontrollierten industriellen Entwicklung ausschlagen.
Die Befreiung vom radikalen Monopol der Industrie und die frohe Wahl einer
kargen Technologie ist nur dort möglich, wo die Menschen an einem
politischen Prozeß teilnehmen, der auf der Gewährleistung eines
optimalen Verkehrs beruht. Diese wiederum verlangt die Anerkennung von
sozialkritischen Energiequanten, auf deren Vernachlässigung die
Industriegesellschaft fußt. Diese Energiemengen reichen aus, um
diejenigen, die gerade so viel, aber nicht mehr verbrauchen, in ein
technologisch reifes post-industrielles Zeitalter zu bringen.
Diese für die Armen so billige Befreiung wird die Reichen teuer zu
stehen kommen, aber sie werden diesen Preis jedenfalls entrichten müssen,
wenn die Beschleunigung der Transportsysteme den Verkehr zusammenbrechen
läßt. Eine konkrete Analyse des Verkehrs enthüllt also die der
Energiekrise zugrunde liegende Wahrheit: Die Auswirkung industriell verpackter
Energiequanten tendiert zu Zerstörung, Erschöpfung und Versklavung,
und diese Folgen werden noch schneller eintreten als die Gefahren der
physischen Umweltvernichtung und der Ausrottung der menschlichen Gattung. Wenn
„Beschleunigung“ erst einmal entzaubert wäre, dann stünde die
Entscheidung offen, gemeinsam im Süden und im Norden, auf dem Land und in
der Stadt, in Ost und West modernem Werkzeug jene Grenzen zu setzen, innerhalb
deren es zur Befreiung beitragen kann.