ENERGIE UND GERECHTIGKEIT

 

Ivan Illich

 

Aus: Ivan Illich (1983). Fortschrittsmythen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 73-112 (Erstauflage 1978).

 

 

Die Energiekrise

 

In jüngster Zeit scheint es unvermeidlich, die drohende Energiekrise zu beschwören. Dieser Euphemismus verbirgt einen Widerspruch und sanktioniert eine Illusion. Er maskiert den Widerspruch, der dem gleichzeitigen Streben nach Gerechtigkeit und industriellem Wachstum innewohnt. Er wahrt die Illusion, daß die Maschine unbeschränkt den Menschen ersetzen könne. Um diesen Widerspruch zu verdeutlichen und diese Illusion aufzudecken, müssen wir die Realität beleuchten, welche das Gerede von der Krise verschleiert: Hohe Energiequantitäten deformieren die sozialen Beziehungen ebenso unvermeidlich, wie sie das physische Milieu zerstören. Energie-Anwendung vergewaltigt die Gesellschaft, bevor sie die Natur zerstört. Die Sachwalter einer Energiekrise vertreten und propagieren ein eigenartiges Menschenbild. Nach dieser Auffassung wird der Mensch in eine anhaltende Abhängigkeit von Sklaven hineingeboren, die zu beherrschen er mühsam lernen muß. Sofern er nicht Gefangene beschäftigt, braucht er Motoren, die den größten Teil seiner Arbeit tun. Nach dieser Doktrin ist das Wohl einer Gesellschaft zu messen an der Zahl der Energiesklaven, die sie zu befehligen lernt. Diese Überzeugung ist den widerstreitenden Ideologien, die heute im Schwang sind, gemeinsam. Sie wird durch die offensichtliche Ungerechtigkeit, Gehetztheit und Ohnmacht in Frage gestellt, die überall auftreten, sobald die unersättlichen Horden der Energiesklaven die Menschen in einer bestimmten Proportion zahlenmäßig übertreffen. Das Schlagwort von der Energiekrise legt den Akzent auf die Knappheit des Futters für diese Sklaven. Ich möchte dagegen fragen, ob freie Menschen diese überhaupt brauchen.

Die in diesem Jahrzehnt ergriffenen energiepolitischen Maßnahmen werden über den Spielraum der sozialen Beziehungen entscheiden, dessen eine Gesellschaft im Jahr 2000 sich wird erfreuen können. Eine Politik des geringen Energieverbrauchs ermöglicht eine breite Skala von Lebensformen und Kulturen. Moderne und doch energiekarge Technologie läßt politische Optionen bestehen. Wenn eine Gesellschaft sich hingegen für einen hohen Energieverbrauch entscheidet, werden ihre sozialen Beziehungen notwendig von der Technokratie beherrscht und – gleichgültig ob als kapitalistisch oder sozialistisch etikettiert – gleichermaßen menschlich unerträglich werden.

Heute steht es noch den meisten Gesellschaften – besonders den armen – frei, ihre Energiepolitik an einer von drei möglichen Richtlinien zu orientieren: Sie können ihr Wohlergehen mit einem hohen Pro-Kopf-Energieverbrauch, mit hoher Effizienz der Energietransformation oder aber mit dem geringstmöglichen Einsatz mechanischer Energie gleichsetzen. Das erste Verfahren würde die straffe Verwaltung knapper und destruktiver Treibstoffe zugunsten der Industrie bedeuten. Das zweite würde die Umrüstung der Industrie im Sinne thermodynamischer Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund stellen. Beide Methoden implizieren gewaltige öffentliche Ausgaben für eine verschärfte soziale Kontrolle und enorme Reorganisation der Infrastruktur. Beide erklären erneutes Interesse an Hobbes, beide rationalisieren die Entstehung eines computerisierten Leviathans, und beide werden gegenwärtig in weiten Kreisen diskutiert. Strengere Planwirtschaft und elektronisch gesteuerte Schnellbahnen sind spießige Vorschläge, ökologische Ausbeutung durch soziale und psychologische zu ersetzen.

Eine dritte, wesentlich neue Möglichkeit wird kaum zur Kenntnis genommen: optimale Meisterung der Natur mit beschränkter mechanischer Kraft klingt noch wie Utopie. Man beginnt zwar, eine ökologische Beschränkung des maximalen Pro-Kopf-Energieverbrauchs als Bedingung des Überlebens zu akzeptieren, doch anerkennt man noch nicht den Einsatz der geringstmöglichen Energiemenge als notwendige Grundlage für jedwede Sozialordnung, die sowohl wissenschaftlich begründbar als auch politisch gerecht ist. Noch mehr als Treibstoff-Hunger muß Energie-Überfluß zur Ausbeutung führen. Nur wenn eine Gesellschaft den Energieverbrauch selbst ihres mächtigsten Bürgers begrenzt, kann sie soziale Beziehungen ermöglichen, die sich durch ein hohes Maß an Gerechtigkeit auszeichnen. Karg bemessene Technik ist Bedingung, wenn auch keine Garantie für soziale Gerechtigkeit. Gerade diese dritte Energie-Politik, die gegenwärtig übersehen wird, ist die einzige, die allen Nationen offensteht: Keinem Land sollten heute die Rohstoffe und Kenntnisse fehlen, um diese Politik innerhalb einer halben Generation zu verwirklichen. Die partizipatorische Demokratie setzt eine Technologie des geringen Energieverbrauchs voraus, und – umgekehrt – kann nur der politische Wille zur Dezentralisation die Bedingungen für eine rationale Technologie schaffen.

Was allgemein übersehen wird, das ist die Tatsache, daß Gerechtigkeit und Energie nur bis zu einem gewissen Punkt im Einklang miteinander zunehmen können. Unterhalb einer bestimmten Schwelle des Wattverbrauchs pro Kopf verbessern die Motoren die Bedingungen des sozialen Fortschritts. Ist diese Schwelle überschritten, dann nimmt der Energieverbrauch einer Gesellschaft auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit zu. Ein weiterer Energieüberschuß bedeutet dann eine schlechtere Verteilung der Kontrolle über diese Energie. Der Grund hierfür ist nicht die Begrenzung der technischen Möglichkeit, Energie-Kontrolle zu verteilen, sondern Schranken, die mit der Dimension des menschlichen Leibes, der sozialen Rhythmen und dem Lebensraum gegeben sind.

Der weitverbreitete Glaube, daß saubere und reichlich vorhandene Treibstoffe das Allheilmittel für soziale Übel seien, geht auf einen politischen Trugschluß zurück, der besagt, daß Gerechtigkeit und Energieverbrauch, zumindest unter gewissen politischen Bedingungen, unbegrenzt miteinander vereinbart werden könnten. Wohlergehen wird mit dem Energie-Wohlstand verwechselt, den die Kernfusion 1990 produzieren soll. Wenn wir mit dieser Illusion arbeiten, dann neigen wir dazu, jede sozial begründete Beschränkung des wachsenden Energiekonsums zu vernachlässigen und uns von ökologischen Überlegungen blenden zu lassen: wir stimmen dem Ökologen zu, daß nichtphysiologische Kraftanwendungen die Umwelt verunreinigen, und übersehen, daß mechanische Kraft – jenseits einer gewissen Schwelle – das soziale Milieu korrumpiert. Die Schwell der sozialen Desintegration durch hohe Energiemengen ist unabhängig von der Schwelle, an der die Umwandlung von Energie in physische Zerstörung übergeht. In Pferdestärken ausgedrückt, ist sie wohl in vielen Fällen niedriger. Das klingt heute noch undenkbar, kann aber wenigstens am Beispiel von Verkehr und Bauwesen nachgewiesen werden. Der Begriff sozial kritischer Energie-Quanten muß erst einmal theoretisch erhellt werden, bevor es möglich ist, den Wattverbrauch pro Kopf, auf den eine Gesellschaft ihre Mitglieder beschränkt, als politische Frage zu erörtern.

In früheren Diskussionen habe ich gezeigt, daß die Kosten der sozialen Kontrolle jenseits einer gewissen Höhe des Bruttosozialprodukts schneller zunehmen als das Gesamtprodukt und die bestimmende institutionelle Aktivität innerhalb einer Volkswirtschaft werden. Die von Erziehern, Psychiatern und Sozialarbeitern verabreichte Therapie muß sich den Programmen der Planer, Manager und Verkaufsstrategen einfügen und die Leistungen der Sicherheitsdienste, des Militärs und der Polizei ergänzen. Meine Analyse der Erziehungsindustrie bezweckte diesen Nachweis auf einem beschränkten Sektor. Ich möchte nun einen Grund benennen, warum ein wachsender Energieüberschuß eine Zunahme der Herrschaft über Menschen erfordert. Jenseits einer kritischen Stufe des Energieverbrauchs pro Kopf, behaupte ich, müssen das politische System und der politische Kontext jeder Gesellschaft verkümmern. Gewaltige Verkehrsmittel, Bauten und Werkzeuge entmachten den politischen Prozeß und zwingen den wehrlosen Menschen in ihren Dienst. Sobald das kritische Quantum des Energieverbrauchs pro Kopf überschritten ist, muß die Erziehung für die abstrakten Ziele einer Technokratie an die Stelle der legalen Garantien für die individuelle, konkrete Initiative treten. Dieses Quantum ist die Grenze, an der Rechtsordnung und Politik zusammenbrechen und die technische Struktur der Produktionsmittel die soziale Struktur vergewaltigen muß.

Selbst wenn eine nicht die Umwelt schädigende Energie möglich und reichlich vorhanden wäre, wirkt sich doch ein massiver Energieverbrauch auf die Gesellschaft wie eine zwar physisch harmlose, doch psychisch versklavende Droge aus. Die Gemeinschaft kann wählen zwischen Methadon und dem „Cold Turkey“ – zwischen dem Beibehalten ihrer Sucht nach fremder Energie und dem Verzicht unter schmerzhaften Krämpfen –, doch keine Gesellschaft kann damit rechnen, daß ihre Mitglieder autonom handeln und gleichzeitig von einer stetig wachsenden Zahl von Energiesklaven abhängig sind. Wie ich meine, muß die Technokratie obsiegen, sobald das Verhältnis von mechanischer Kraft zu „metabolischer“ Energie eine bestimmte, definierbare Schwelle überschreitet. Die Größenordnung, in der diese Schwelle liegt, ist weitgehend unabhängig vom Grad der angewandten Technisierung, doch schon ihr bloßes Vorhandensein ist in den Ländern des großen wie des mittleren Wohlstands in den toten Winkel der sozialen Phantasie gerückt. Sowohl die USA als auch Mexiko haben die kritische Grenze überschritten. In beiden Ländern vermehrt ein zusätzlicher Energie-Input Ungleichheit, Ineffizienz und Ohnmacht. Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen im einen Land bei 500 Dollar und im anderen bei 5000 Dollar liegen mag, werden beide durch das mächtige wirtschaftliche Interesse an einer industriellen Infrastruktur angespornt, den Energieverbrauch weiter zu eskalieren. Infolgedessen versehen nordamerikanische wie mexikanische Ideologen ihre Frustration mit dem Etikett Energiekrise, und in beiden Ländern stellt man sich blind für die Tatsache, daß die Gefahr des sozialen Zusammenbruchs weder von einer Treibstoffknappheit noch von einer verschwenderischen, umweltschädlichen und irrationalen Verwendung der verfügbaren Wattleistung ausgeht, sondern vom Versuch der Industrie, die Gesellschaft mit Energiemengen zu überfüttern, welche die Mehrzahl der Menschen unausweichlich erniedrigen, berauben und frustrieren.

Ein Volk kann durch die Energiemenge seiner Maschinen ebenso überfahren werden wie durch den Kaloriengehalt seiner Nahrung, aber die energiemäßige Übersättigung der Nation gesteht man sich viel schwerer ein als eine krankmachende Diät.

Die für das soziale Wohl kritische Energiemenge pro Kopf liegt in einer Größenordnung, die außerhalb Chinas zur Zeit der Kulturrevolution wenigen Völkern bekannt war: sie geht weit über die PS-Zahl hinaus, über die vier Fünftel der Menschheit verfügen, und bleibt weit unter der Energie, über die jeder Volkswagenfahrer gebietet. Sie scheint dem Überkonsumenten wie dem Unterkonsumenten gleichermaßen nichtssagend. Für die Absolventen aller Mittelschulen der Welt bedeutet eine Beschränkung des Energieniveaus den Zusammenbruch ihres Weltbildes – für die meisten Südamerikaner bedeutet dasselbe Niveau ihren Eintritt in die Welt der Motoren. Beide finden es schwer. Für die Primitiven ist die Beseitigung der Sklaverei abhängig von der Einführung einer modernen, bewußt bemessenen Technik, und wenn die Bewohner reicher Länder eine noch furchtbarere Schinderei vermeiden wollen, dann sind sie darauf angewiesen, jene Schwelle des Energieverbrauchs zu erkennen, jenseits welcher die technischen Prozesse anfangen, die sozialen Beziehungen vorzuschreiben. Kalorien sind biologisch wie auch sozial nur so lange bekömmlich, als ihre Menge innerhalb des engen Bereichs bleibt, der das Genug vom Zuviel scheidet.

Die sogenannte Energiekrise ist also ein politisch zweideutiges Problem. Das öffentliche Interesse an der Quantität der Energie und der Verteilung der Kontrolle über den Energieverbrauch kann in zwei entgegengesetzte Richtungen führen. Einerseits kann man Fragen formulieren, die den Weg zur politischen Rekonstruktion eröffnen würden, indem sie die Bemühungen um eine postindustrielle, arbeitsintensive Wirtschaft mit geringem Energieverbrauch und hohem Maß an Gerechtigkeit freisetzen. Andererseits kann die hysterische Sorge um das Futter für die Maschinen die heutige Eskalation des kapitalintensiven institutionellen Wachstums verstärken und uns die letzte Chance rauben, einem hyperindustriellen Armageddon zu entgehen. Die politische Rekonstruktion setzt die prinzipielle Erkenntnis voraus, daß es kritische Mengen des Pro-Kopf-Verbrauchs gibt, über die hinaus Energie nicht mehr durch politische Prozesse kontrolliert werden kann. Ökologische Beschränkungen des Gesamt-Energieverbrauchs, die von industriefreundlichen Planern in der Absicht erlassen werden, die Industrieproduktion auf einem gewissen hypothetischen Maximum zu halten, werden unvermeidlich den sozialen Zusammenbruch nach sich zeihen. Reiche Länder wie die USA, Japan oder Frankreich werden vielleicht nie den Punkt erreichen, wo sie an ihren eigenen Abfällen ersticken, aber nur deshalb, weil ihre Gesellschaften bereits in einem sozialkulturellen Energiekoma zusammengebrochen sein werden. Länder wie Indien, Burma und, zumindest noch einige Zeit, China befinden sich in der umgekehrten Position, daß sie immer noch genügend auf Muskelkraft fundiert sind, um kurz von einem Energiekollaps haltmachen zu können. Sie könnten schon jetzt beschließen, innerhalb jener Pro-Kopf-Energie-Grenzen zu bleiben, in die die reichen Länder unter gewaltigen Einbußen ihrer einzementierten Kapitalien zurückgezwungen werden.

Die Entscheidung für eine Wirtschaft mit minimalem Energieverbrauch verlangt von den Armen, ihre weitgesteckten Erwartungen aufzugeben, und von den Reichen, ihre wirtschaftlichen Interessen als Schuldzusammenhang zu erkennen. Beide müssen das fatale Bild des Menschen als Sklavenhalter zurückweisen, das gegenwärtig durch einen ideologisch stimulierten Hunger nach immer mehr Energie gefördert wird. In jenen Ländern, deren industrielle Entwicklung in den Überfluß mündete, wird die Energiekrise als Knüppel benutzt, um die Steuern hochzutreiben, die notwendig sein werden, um rationellere und sozial tödlichere industrielle Verfahren an die Stelle derer zu setzen, die durch eine ineffektive Überexpansion veraltet sind. Den Führern jener Völker, die durch denselben Prozeß der Industrialisierung enteignet wurden, dient die Energiekrise als Alibi für die Zentralisierung der Produktion, der Aufrüstung der Bürokratie und der Umweltzerstörung im Dienste eines letzten verzweifelten Versuchs, mit den besser mit Motoren ausgestatteten Ländern gleichzuziehen. Die reichen Länder sind jetzt dabei, ihre Krise zu exportieren und das neue Evangelium eines puritanischen Energiekults den Armen und Schwachen zu predigen. Wenn die neue Saat der energiesparenden Industrialisation in der Dritten Welt aufgeht, fügen sie den Armen mehr Schaden zu, als sie es dadurch taten, daß sie ihnen die verschwenderischen Produkte von heute veralteten Fabriken andrehten. Sobald ein armes Land die Doktrin akzeptiert, daß mehr und sorgfältiger verwaltete Energie stets mehr Waren für mehr Menschen erbringen wird, ist dieses Land dem Wettlauf in die Versklavung durch die Maximierung der Industrieproduktion verfallen. Wenn die „Armen“ sich dafür entscheiden, ihre Armut durch eine vermehrte Abhängigkeit von Energiequellen zu modernisieren, dann verzichten sie unausweichlich auf die Alternative einer rationalen Technologie. Die Armen werden notwendig auf die Möglichkeit einer befreienden Technologie und einer partizipatorischen Politik verzichten, wenn sie – im Dienste mit höchstmöglichem Energieverbrauch - die höchstmögliche soziale Kontrolle in Form von moderner Erziehung akzeptieren.

Die Lähmung der modernen Gesellschaft, die sich Energiekrise nennt, kann nicht durch einen höheren Aufwand an Energie überwunden werden. Sie kann nur gelöst werden, wenn wir die Illusion aufgeben, daß unser Wohl von der Zahl der Energiesklaven abhängt, über die wir gebieten. Zu diesem Zweck ist es notwendig, daß wir die Schwelle erkennen, jenseits welcher Energie korrumpiert, und daß wir dies in einem politischen Prozeß tun, der die Gemeinschaft im Bemühen um diese Erkenntnis und die darauf gebaute Selbstbeschränkung vereinigt. Da diese Art Forschung dem entgegengesetzt ist, was Experten und Institutionen heute tun, will ich sie als Gegenforschung bezeichnen. Diese umfaßt drei Schritte: Zuerst muß die Notwendigkeit einer Beschränkung des Energieverbrauchs pro Kopf theoretisch als sozialer Imperativ anerkannt werden. Dann muß der Bereich bestimmt werden, innerhalb dessen die kritische Größe sich bewegen mag. Und schließlich muß jede Gesellschaft bestimmen, welchen Grad der Ungerechtigkeit, Zerstörung und Propaganda ihre Mitglieder zu akzeptieren bereit sind, um einer seltsamen Befriedigung willen: Sie dürfen mächtige Maschinen zum Idol machen und um dieses „Eiserne Kalb“ nach dem von Experten geschlagenen Takt tanzen.

Die Notwendigkeit einer politischen Erforschung der gesellschaftlich optimalen Energiemengen läßt sich an Hand einer Untersuchung des modernen Verkehrs illustrieren. Die USA wenden, nach Herendeen, 42 % ihrer gesamten Energie für Fahrzeuge auf: Um sie herzustellen, sie zu betreiben und ihnen Platz zu schaffen, wenn sie parken, fahren oder fliegen. Der größte Teil dieser Energie wird gebraucht, um Menschen zu befördern. Lediglich für diesen Zweck wenden 250 Millionen Amerikaner mehr Treibstoff auf als 1300 Millionen Chinesen und Inder insgesamt verbrauchen. Beinah die gesamte Energiemenge wird in einem Beschwörungstanz der zeitraubenden Akzeleration verheizt. Die armen Länder verausgaben weniger Energie pro Person, aber Länder wie Mexiko oder Peru wenden einen noch größeren Prozentsatz ihrer gesamten Energie für den Verkehr auf als die USA, und dieser kommt einem geringeren Prozentsatz der Bevölkerung zugute. Der Umfang dieses Unternehmens macht es sowohl einfach wie auch bedeutsam, am Beispiel der Personenbeförderung die Existenz gesellschaftlich kritischer Energiequanten zu demonstrieren.

Im Verkehr setzt sich die über einen bestimmten Zeitraum aufgewandte Energie (Kraft) in Geschwindigkeit um. In diesem Fall erscheint also das kritische Quantum auch als Geschwindigkeitsgrenze. Wann immer diese Grenze überschritten wurde, zeigte sich bisher das grundlegende Muster der sozialen Zerstörung durch hohe Energiequanten. Sobald in einer westlichen Gesellschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts ein allgemeines Verkehrsmittel schneller als 25 km/h fuhr, nahm die gerechte Billigkeit ab, die Knappheit von Zeit und Raum nahm zu. Der motorisierte Transport monopolisierte den Verkehr und blockierte die Fortbewegung aus eigener Kraft. In allen westlichen Ländern multiplizierte sich die Zahl der Reisekilometer binnen fünfzig Jahren seit dem Bau der ersten Eisenbahn um etwa das Hundertfache. Wenn die Proportion ihrer jeweiligen Energieproduktion einen bestimmten Wert überschritt, dann schlossen die mechanischen Umwandler mineralischer Treibstoffe den Menschen vom Gebrauch seiner metabolischen Energie aus und zwangen ihn, ein versklavter Konsument der Beförderungsmittel zu werden. Diese Auswirkung der Geschwindigkeit auf die Autonomie des Menschen wird nur am Rande durch die technologischen Eigenschaften der verwendeten Motorfahrzeuge bzw. durch die Personen oder Gruppen beeinflußt, welche die rechtliche Verfügung über Fluglinien, Busse, Eisenbahnen oder Pkw besitzen. Hohe Geschwindigkeit ist der kritische Faktor, durch den das Transportwesen zum Instrument der gesellschaftlichen Ausbeutung werden muß. Eine wirkliche Entscheidung zwischen politischen Systemen und so die Entwicklung partizipatorischer Sozialbeziehungen ist nur dort möglich, wo die Geschwindigkeit beschränkt wird. Die partizipatorische Demokratie verlangt eine karge Bemessung des Energieverbrauchs in ihrer Technik. In schlichter Formulierung läßt sich folgendes sagen: Produktive Sozialbeziehungen unter freien Menschen bleiben auf das Fahrradtempo beschränkt.

An Hand des Verkehrs möchte ich den allgemeineren Gesichtspunkt des gesellschaftlich optimalen Energieverbrauchs illustrieren, und ich beschränke mich auf die Beförderung von Personen einschließlich ihres persönlichen Gepäcks und der für Fahrzeug und Straße erforderlichen Treibstoffe, Materialien und Geräte. Ich sehe absichtlich von der Erörterung zweier anderer Formen des Verkehrs ab: der Waren- und Nachrichtenbeförderung. In beiden Fällen ist eine parallele Argumentation möglich, doch müßte die Schlußfolgerung einen anderen Gang nehmen, und ich spare mir dies für eine spätere Gelegenheit auf.

 

Die Industrialisierung des Verkehrs

 

Der Gesamtverkehr ist das Ergebnis von zwei unterschiedlichen Anwendungsweisen der Energie. Verkehr ist eine Summe aus persönlicher Fortbewegung (autogenem Transit) und mechanischer Beförderung (dem Transport von Menschen). Unter Transit verstehe ich jene Art der Fortbewegung, die auf der metabolischen Energie des Menschen beruht, und unter Transport verstehe ich jene Bewegungsform, die von anderen Energiequellen Gebrauch macht. Bei diesen Energiequellen wird es sich künftig vor allem um Motoren handeln, da die Tiere, soweit sie nicht Distelfresser wie der Esel und das Kamel sind, in einer übervölkerten Welt mit dem Menschen in einem erbitterten Wettkampf um die Nahrung stehen. Wie schon gesagt, beschränke ich meine Beobachtung auf die Ortsveränderung von Menschen jenseits ihrer Haustür.

Sobald die Menschen – nicht nur bei mehrtägigen Reisen, sondern auch im täglichen Pendelverkehr – auf Beförderung angewiesen sind, treten die Widersprüche zwischen sozialer Gerechtigkeit und Motorkraft, zwischen effektiver Fortbewegung und hoher Geschwindigkeit, zwischen individueller Freiheit und vorgeschriebenem Geleise mit eindringlicher Klarheit hervor. Die erzwungene Abhängigkeit von automobilen Maschinen verweigert dann einer Gesellschaft von lebendigen Menschen gerade jene Beweglichkeit, deren ursprünglicher Zweck die Mechanisierung des Transportwesens war. Verkehrs-Sklaverei setzt ein.

Der schnell verfrachtete und stets verschleppte Mensch kann kaum mehr wandern, wandeln oder spazieren, bummeln, laufen oder auch nur marschieren und schon gar nicht schlendern, pilgern oder vagabundieren; und doch muß er ebenso lange auf den Füßen sein wie sein Großvater. Der moderne Amerikaner muß im Durchschnitt genauso viele Kilometer zu Fuß laufen wie seine Vorfahren – zumeist durch Tunnels, Korridore, über Parkplätze und durch Kaufhäuser.

Zu Fuß sind die Menschen mehr oder minder gleichgestellt. Menschen, die nur zu Fuß gehen, bewegen sich spontan, mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 6 km/h in jede Richtung und an jeden Ort, soweit ihnen dies nicht rechtlich oder physisch verwehrt ist. Von einer Verbesserung dieser ursprünglichen Mobilität durch eine neue Transporttechnik sollte man erwarten, daß sie diesen Grad der Effizienz sowohl bewahrt als auch um neue Qualitäten bereichert – etwa größere Reichweite, Zeitersparnis, Bequemlichkeit oder bessere Chancen für die Behinderten. Bisher ist dies nicht der Fall, vielmehr hatte das Wachstum der Transportindustrie überall gegenteilige Folgen. Von dem Augenblick an, als ihre Maschinen den einzelnen Reisenden mit mehr als einer gewissen PS-Kraft ausstatteten, hat diese Industrie die Gleichheit zwischen den Menschen verringert, ihre Mobilität auf ein System von industriell vorgeschriebenen Routen eingeschränkt und eine Zeitknappheit nie dagewesenen Ausmaßes geschaffen. Die Menschen werden, sobald die Geschwindigkeit ihrer Fahrzeuge eine gewisse Schwelle überschreitet, zu Gefangenen des täglichen Kreislaufs, der zum gleichen Punkt zurückkehrt, von dem er ausging.

Wenn mehr als ein gewisses Quantum Energie in das Transportsystem eingefüttert wird, so bedeutet dies, daß mehr Menschen sich im Lauf eines Tages schneller über weitere Distanzen bewegen und immer mehr Zeit einsetzen, um befördert zu werden. Der tägliche Radius eines jeden erweitert sich auf Kosten der Möglichkeit, den eigenen Weg zu gehen. Um den Preis einer universalen Versklavung werden extreme Privilegien geschaffen. Eine Elite legt in einem Leben voller Luxusreisen unbegrenzte Entfernungen zurück, während die Mehrheit den größeren Teil ihres Daseins mit dem ungewollten Umfahren von Flug- und Parkplätzen verbringt. Die Wenigen besteigen ihren Zauberteppich, um zwischen entfernten Orten hin und her zu fliegen, die sie durch ihre flüchtige Gegenwart begehrt und verführerisch machen, während die Vielen gezwungen sind, weiter und schneller zu fahren und mehr Zeit mit der Vorbereitung für und der Erholung von ihrem Arbeitsweg zu verbringen.

In den USA entfallen vier Fünftel aller von Menschen unterwegs verbrachten Stunden auf Berufspendler und zum Einkaufen fahrende Vorstadtbewohner, die kaum je ein Flugzeug besteigen, während vier Fünftel aller zu Urlaubs- oder Geschäftszwecken zurückgelegten Flugkilometer Jahr für Jahr denselben eineinhalb Prozent der Bevölkerung vorbehalten bleiben, die entweder wohlhabend oder durch ihre Berufsausbildung privilegiert sind. Je schneller das Verkehrsmittel, desto größer seine Begünstigung durch die regressive Besteuerung. Gerade 0,2 % der Gesamtbevölkerung der USA kann öfter als einmal im Jahr eine selbstgewählte Flugreise unternehmen, und nur wenige andere Länder sind in der Lage, einen prozentual ebenso großen ‚Jet-Set’ zu unterhalten.

Der versklavte Ausflügler wie der sorgenfreie Reisende werden gleichermaßen vom Transport abhängig. Keiner bleibt frei davon. Gelegentliche Blitzreisen nach Acapulco oder zu einem Parteikongreß gaukeln dem Mittelstandsmitglied vor, er gehöre zur schrumpfenden Welt der eiligen, mächtigen Vorstandsmitglieder. Die gelegentliche Aussicht, ein paar Stunden angeschnallt in einem durch gewaltige Kräfte vorwärts getriebenen Sitz zu verbringen, macht selbst den Arbeiter zum Komplizen der Deformation des menschlichen Raumes und bringt ihn dazu, sich damit abzufinden, daß die Geographie seines Landes für die Bedürfnisse der Fahrzeuge und nicht für die der Menschen eingerichtet wird.

Der Mensch hat sich langsam, physisch und kulturell, im Einklang mit den Bedingungen seiner kosmischen Nische entwickelt. Was für das Tier seine Umwelt ist, das hat er in langer Geschichte zu seinem Wohn-Raum zu machen gelernt. Sein Selbstbild verlangt nach Ergänzung durch einen Lebensraum und eine Lebenszeit, in die das Tempo seiner Fortbewegung integriert ist. Das bewußte Ebenmaß von Raum, Zeit und Tempo bestimmen ihn als Mensch. Wenn diese Beziehung durch die Geschwindigkeit der Fahrzeuge statt durch die Fortbewegung der Menschen bestimmt wird, dann wird der Mensch als Erbauer auf den Status des Pendlers reduziert.

Der typische amerikanische Mann widmet seinem Auto mehr als 1 600 Stunden im Jahr. Er sitzt darin, während es fährt und während es stillsteht. Er parkt es und sucht es wieder auf. Er verdient das Geld, um dafür eine Anzahlung zu leisten und die monatlichen Raten zu bezahlen. Er arbeitet, um das Benzin, das Wegegeld, die Versicherung, die Steuern und die Strafzettel zu bezahlen. Er verbringt vier seiner sechzehn wachen Stunden auf der Straße oder damit, die Mittel für den Betrieb des Autos zu beschaffen. Diese Zahl beinhaltet nicht einmal die Zeit, die für andere, durch den Transport diktierte Aktivitäten aufgeht: die Zeit, die man im Krankenhaus, vor dem Verkehrsrichter oder in der Werkstatt verbringt; die Zeit, die man damit verbringt, die Automobilreklame zu studieren oder sich beraten zu lassen, um das nächste Mal einen besseren Kauf zu tätigen. Die Gesamtkosten von Autounfällen und vom Universitätsbetrieb sind fast überall in der gleichen Größenordnung und steigen mit dem Sozialprodukt an. Aber noch aufschlußreicher ist der Zeitraub durch Verkehr: Der typische amerikanische arbeitende Mann wendet 1 600 Stunden auf, um sich 7 500 Meilen fortzubewegen: das sind weniger als fünf Meilen pro Stunde. In Ländern, in denen eine Transportindustrie fehlt, schaffen die Menschen dieselbe Geschwindigkeit und bewegen sich dabei, wohin sie wollen – und sie wenden für den Verkehr nicht 28 %, sondern nur 3 % bis 8 % ihres gesellschaftlichen Zeitbudgets auf. Der Verkehr in den reichen Ländern unterscheidet sich vom Verkehr in den armen Ländern nicht dadurch, daß für die Mehrheit mehr Kilometer auf die Stunde der einzelnen Lebenszeit entfallen, sondern dadurch, daß mehr Stunden mit dem Zwangskonsum der großen Energiemengen verbracht werden, welche die Transportindustrie „abpackt“ und ungleich verteilt.

 

Das Tempo lähmt die Phantasie

 

Jenseits einer gewissen Schwelle des Energiekonsums diktiert die Transportindustrie die Gestaltung des sozialen Raumes. Die Fahrbahnen dehnen sich aus, sie treiben Keile zwischen städtische Nachbarn und trennen den mexikanischen Bauern weiter von seinen Feldern, als er zu Fuß gehen kann. Durch den Ambulanzwagen rückt das Sprechzimmer in Brasilien in weitere Ferne, als man ein krankes Kind zu tragen vermag. Der Arzt kommt in New York nicht mehr ins Haus, denn das Fahrzeug macht das Krankenhaus zum einzigen Ort, wo man krank wein darf. Sobald schwere Lastwagen ein hoch in den Anden gelegenes Dorf erreichen, verschwindet ein Teil des lokalen Marktes. Später, wenn gleichzeitig mit dem befestigten Highway die Oberschule an der Plaza Einzug hält, wandern immer mehr junge Leute in die Stadt ab, bis es keine Familie mehr gibt, die sich nicht nach einem Wiedersehen mit irgend jemandem sehnt, der Hunderte Kilometer entfernt drunten an der Küste lebt.

Wie unterschiedlich das oberflächliche Bild auch sein mag, wirken sich gleiche Geschwindigkeiten für reiche wie für arme Länder doch gleich zerstörerisch auf die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Kraft aus. Überall prägt die Transportindustrie einen neuen Menschentypus, der auf Schienen paßt und nach Fahrplänen läuft.

Das Produkt der Transportindustrie ist der beförderungssüchtige Gewohnheitspassagier. Er ist aus jener Welt vertrieben, in der die Menschen sich noch immer aus eigener Kraft fortbewegen, und er hat das Gefühl verloren, im Mittelpunkt seiner Welt zu stehen. Dem Gewohnheitspassagier ist die sich verschärfende Zeitknappheit bewußt; sie rührt aus dem täglichen Angewiesensein auf Autos, Busse, U-Bahnen und Aufzüge her, die ihn zwingen, im Schnitt 30 Kilometer täglich zurückzulegen, wobei seine Wege sich häufig in einem Radius von weniger als 5 bis 10 Kilometern überschneiden. Er hat den Boden unter den Füßen verloren und ist auf das Rad geschnallt. Ganz gleich, ob er die U-Bahn oder ein Flugzeug benutzt, er kommt sich langsamer und ärmer als die anderen, schnelleren vor, und er ist neidisch auf die Abkürzungen, die sich die wenigen Privilegierten, die den Frustrationen des Verkehrs zu entgehen wissen, leisten können. Wenn er an den Fahrplan seines Pendelzuges gefesselt ist, träumt er von einem Auto. Wenn die „rush-hour“ ihn erschöpft, ist er neidisch auf das Tempo, mit dem der „Kapitalist“ in der Gegenrichtung des Verkehrsstroms fährt. Wenn er sein Auto aus eigener Tasche bezahlen muß, dann weiß er nur zu genau, daß jene, die über Firmenfuhrparks gebieten, ihre Benzinrechnung als Spesen einreichen und den Leihwagen als Geschäftsunkosten abschreiben. Der Gewohnheitspassagier sitzt täglich stundenlang am unteren Ende der Skala zunehmender Ungleichheit, Zeitknappheit und persönlichen Ohnmacht, aber er sieht keinen anderen Weg aus dieser Zwangslage, als noch mehr vom Immergleichen zu fordern: besseren Verkehr durch schnellere Beförderung. Er drängt auf technische Änderungen in der Planung von Fahrzeugen, Straßen und Fahrplänen; oder aber er wirbt für eine Revolution, die schnellen Massentransport durch die Verstaatlichung der Transportmittel herbeiführen soll. In keinem Fall kalkuliert er den Preis für die Beförderung in eine bessere Zukunft. Er vergißt, daß er selbst es ist, der – in Form von Gebühren oder Steuern – die Rechnung für weitere Beschleunigung bezahlt. Er übersieht die indirekten Kosten für die Ablösung der privaten Autos durch gleich schnelle öffentliche Transportmittel. Er ist nicht mehr fähig, sich den Vorteil der Muskelkraft gegenüber dem Kraftfahrzeug vorzustellen.

Der Gewohnheitspassagier ist also nicht imstande, den Unflug eines überwiegend auf Transportmitteln beruhenden Verkehrs zu durchschauen. Seine überkommene Wahrnehmung von Raum, Zeit und persönlichem Tempo sind industriell deformiert. Er hat die Freiheit verloren, sich selbst außerhalb der Rolle des Passagiers zu sehen. Seine Sucht, sich fahren zu lassen, läßt ihn die Kontrolle über die physische, soziale und psychische Kraft verlieren, die den Füßen des Menschen innewohnt. Der voll ausgebildete Transport-Konsument erlebt sich als Körper, der durch den Raum gejagt wird. Als Kraftfahrer lenkt, beschleunigt und bremst er auf vorgeschriebenen Bahnen ohne Sinn für leibhaftige Macht über Land und Boden. Sich selbst überlassen, ist er unbeweglich, verlassen, heimatlos.

Der zur Fracht gewordene Mensch spricht eine neue Sprache. Sich „treffen“ heißt für ihn, durch Fahrzeuge zusammengebracht werden, oder über das Mikrophon zu sprechen; Bewegungsfreiheit, das Recht, sich befördern zu lassen. Wenn die Sprache so schrumpft, sind die Füße politisch entmachtet. Politische Betätigung setzt so den Verbrauch von warenhaften Dienstleistungen voraus. Was der Mensch sich wünscht, ist daher nicht: mehr Freiheit für den Bürger, sondern bessere Dienstleistung für den Kunden. Er verficht nicht seine Freiheit, sich fortzubewegen und mit anderen zu sprechen, sondern sein Recht, befördert und informiert zu werden. Er wünscht eine bessere Ware statt der Freiheit von der Versklavung durch diese. Lebenswichtig wäre es für ihn, zu erkennen, daß die Akzeleration seiner Ansprüche auf ihn selbst zurückschlägt und daß sie zum Niedergang von Freiheit, Muße und Selbständigkeit führen muß.

 

Netto-Transfer von Lebenszeit

 

Unkontrollierte Geschwindigkeit ist kostspielig, und wir können sie uns immer weniger leisten. Jeder Geschwindigkeitszuwachs eines Fahrzeugs führt zur Vermehrung der Kosten für Antrieb, Straßen- oder Schienenbau und – was am schwersten ins Gewicht fällt – für den Raum, den das Fahrzeug beansprucht, während es unterwegs ist. Ist eine gewisse Schwelle des Energieverbrauchs durch den schnellsten Reisenden einmal überschritten, dann entsteht eine weltweite Klassenstruktur von Geschwindigkeitskapitalisten. Der Tauschwert der Zeit gewinnt die Oberhand, und dies spiegelt sich in der Sprache wider: Zeit wird aufgewandt, gespart, investiert, vergeudet oder genutzt. Die Gesellschaft hängt jedem sein Preisschildchen an, das den Wert seiner Stunde angibt, und je schneller es geht, um so größer werden die Preisdifferenzen. Zwischen Chancengleichheit und Geschwindigkeit besteht eine umgekehrte Korrelation.

Ein hohes Tempo verzinst die Zeit einiger Weniger zu enormen Sätzen, doch paradoxerweise geschieht dies unter hohen Kosten für diejenigen, deren Zeit weniger hoch bewertet wird. In Bombay besitzen nur wenige ein Auto. Sie brauchen nur einen Vormittag, um nach Puna zu gelangen: die moderne Wirtschaft zwingt sie zu einem wöchentlichen Besuch. Vor zwei Generationen war diese Reise nach Puna noch ein wochenlanger Treck, den man einmal im Jahr unternahm. Das Auto, das heute scheinbar die Wirtschaft ankurbelt, unterbricht aber auch den Verkehrsfluß von Tausenden Fahrrädern und Rikschas, die sich durch das Zentrum von Bombay fortbewegen, und lähmt eine ganze Gesellschaft. Der summierte transportbedingte Zeitaufwand und die Verstümmelung einer Gesellschaft nehmen schneller zu als die Zeitersparnis, die einige wenige bei ihren Exkursionen machen. Überall nimmt der Verkehr mit der Verfügbarkeit kraftstrotzender Transportmittel unbeschränkt zu. Mit den Beförderungsmöglichkeiten steigt der Zeitmangel. Jenseits einer gewissen kritischen Schwelle ist der Zeitverlust, den die Produkte der Transportindustrie verursachen, größer als die Ersparnis. Der Preis für den marginalen Nutzen steigender Geschwindigkeit für eine kleine Zahl ist der anschwellende marginale Schadenzuwachs (rising marginal dis-utility) der großen Mehrheit, der durch diese zeitraubende Beschleunigung verursacht wird.

Jenseits einer kritischen Geschwindigkeit kann niemand Zeit „sparen“, ohne daß er einen anderen zwingt, Zeit zu „verlieren“. Derjenige, der einen Platz in einem schnelleren Fahrzeug beansprucht, behauptet damit, seine Zeit sei wertvoller als die Zeit dessen, der in einem langsameren Fahrzeug reist. Jenseits einer gewissen Geschwindigkeit wird der Passagier zum Räuber: er konsumiert die Zeit der anderen und plündert die Masse der Gesellschaft. Die Beschleunigung seines Fahrzeuges wird zum Mittel eines Netto-Transfers von Recht über Lebenszeit. Das Maß dieses Transfers ist in Geschwindigkeitsquanten meßbar. Dieses Zeitraffen benachteiligt jene, die zurückbleiben, und da diese die Mehrheit sind, wirft es ethische Probleme von allgemeinerer Natur auf als die der Nierendialyse oder der Transplantation von Organen. Eine Gesellschaft, die das Zeitraffen der Auserwählten nicht nur duldet, sondern auch wünscht, unterwirft sich freiwillig dem Imperialismus mechanischer Gewalt.

Jenseits einer kritischen Geschwindigkeit schaffen Motorfahrzeuge entfremdende Entfernungen, die nur sie überbrücken können. Abwesenheit wird zur Regel, Anwesenheit zur Ausnahme. Eine neue Sandstraße durch die brasilianische Wildnis bringt die Großstadt in den Gesichtskreis, nicht aber in die Reichweite der meisten Subsistenzbauern. Die neue Schnellstraße durch Chicago expandiert diese Stadt, aber sie absorbiert jene, die gut genug motorisiert sind, um sich von einem Zentrum fernzuhalten, das zu einem Getto verkommt. Wachsende Beschleunigung verschärft die Ausbeutung des Schwächeren in Illinois wie im Iran.

Vom Zeitalter des Cyrus bis zum Zeitalter der Dampfmaschine blieb die Geschwindigkeit des Menschen unverändert. Nachrichten reisten nicht schneller als 150 Kilometer pro Tag, ganz gleich wie die Botschaft befördert wurde. Weder der Läufer des Inka noch die venetianische Galeere, weder der persische Reiter noch die Postkutsche aus den Tagen Ludwigs XIV, konnten diese Barriere durchbrechen. Krieger, Entdecker, Kaufleute und Pilger legten dreißig Kilometer am Tag zurück. Wie Valéry sagte, kam Napoleon immer noch mit der Langsamkeit Caesars voran: Napoléon va à la même lenteur que César. Der Kaiser wußte, daß der öffentliche Wohlstand am Einkommen der Postkutschen gemessen wird (On mesure la prospérité publique aux comptes des diligences) – aber er konnte diese kaum beschleunigen. Von Paris nach Toulouse brauchte man zur Zeit der Römer 200 Stunden, und 1782 brauchte die fahrplanmäßige Postkutsche immer noch 158 Stunden. Erst das 19. Jahrhundert beschleunigte den Menschen. 1830 war die Reisezeit auf 110 Stunden verringert, aber um einen neuen Preis: In diesem Jahr stürzten 1150 Kutschen um und verursachten mehr als tausend Todesfälle. Dann brachte die Eisenbahn einen plötzlichen Wandel. 1855 konnte Napoleon III. behaupten, er habe die Strecke Paris-Marseille im Zug mit einem Durchschnitt von 96 km/h zurückgelegt. Zwischen 1850 und 1900 vermehrte sich die Produktion von Passagier-Kilometern in Frankreich um das Hundertfache. Englands Eisenbahnnetz erreichte 1893 seine größte Ausdehnung. Die Reisezüge erreichten ihr Kostenoptimum, berechnet nach der für Unterhalt und Nutzung aufgewandten Zeit. Mit der weiteren Beschleunigung begann der Transport das Verkehrswesen zu beherrschen. Geschwindigkeit begann, Reiseziele hierarchisch zu ordnen. Die Anzahl der angesetzten Pferdestärken bestimmt die Klasse der reisenden Geschäftsführer mit einem Aufwand, den sich Könige nicht träumen ließen. Jede Folge von Etappen degradiert jene, die auf eine geringere Kilometerleistung pro Jahr festgelegt sind. Diejenigen, die sich aus eigener Kraft fortbewegen müssen, sind nunmehr als unterentwickelte Außenseiter definiert. Sage mir, wie schnell du reist, und ich sage dir, wer du bist. Wer die Steuergelder in Anspruch nehmen kann, mit denen die Concorde gespeiste wird, gehört zweifellos zur Spitze.

Im Laufe der letzten zwei Generationen wurde das Fahrzeug zum Symbol der Karriere, genau wie die Schule zum Symbol des sozialen Startvorsprungs wurde. Eine solche Konzentration der Macht muß ihre eigene Begründung hervorbringen. In kapitalistischen Ländern wird die Verausgabung öffentlicher Gelder, um einen Menschen jedes Jahr mehr Kilometer in kürzerer Zeit reisen zu lassen, mit den noch größeren Investitionen begründet, die aufgewandt wurden, um ihm eine längere Ausbildung zu geben. Sein vermeintlicher Wert als kapitalintensives Produktionsmittel bestimmt das Tempo, mit dem er befördert wird. Der hohe soziale Wert des Wissens-Kapitalisten ist nicht die einzige brauchbare Begründung für die privilegierte Würdigung der Zeit einer Elite. Neben dem hohen Grad an Wissensbesitz sind andere ideologische Etiketten ebenso nützlich, um die Kabinentür zu einem Luxus zu öffnen, den die anderen bezahlen. Wenn es heute nötig ist, die Gedanken des Vorsitzenden Mao im Düsenjet durch China zu hetzen, dann kann dies nur bedeuten, daß jetzt schon zwei Klassen erforderlich sind, um das in Gang zu halten, was diese Revolution auf einem langen Marsch geschaffen hat, zwei Klassen, von denen die eine in der Geographie der Massen und die andere in der Geographie der Kader lebt. Gewiß hat die Unterdrückung der Zwischenstufen von Geschwindigkeit in der Volksrepublik China eine effizientere und rationalere Konzentration der Macht ermöglicht, doch sie unterstreicht auch den neuen Wertunterschied zwischen der Zeit des Ochsentreibers und der Zeit des düsengetriebenen Funktionärs. Unweigerlich konzentriert die Geschwindigkeitsbeschleunigung die Pferdestärken unter den Sitzen einiger weniger und fügt zum sich verschärfenden Zeitmangel der meisten Pendler das Gefühl des Zurückgebliebenseins hinzu.

Die Notwendigkeit ungleicher Privilegien in einer Industriegesellschaft wird für gewöhnlich mit Hilfe einer zweiseitigen Argumentation vertreten. Das Privileg wird als notwendige Vorbedingung für das wachsende Wohlergehen der Gesamtbevölkerung akzeptiert, oder es wird als Instrument für die Hebung des Lebensstandards einer benachteiligten Minorität angepriesen. Die Scheinheiligkeit dieser Argumentation erweist sich klar am Beispiel der „Geschwindigkeitsbeschleunigung“. Auf lange Sicht bewirkt der sich beschleunigende Transport weder das eine noch das andere. Er schafft lediglich eine universelle Nachfrage nach motorisierter Beförderung und trennt die verschiedenen Schichten der Privilegierung durch bisher unvorstellbare Höhenunterschiede. Jenseits einer bestimmten Stufe muß mehr Energie mehr Ausbeutung bedeuten. Unbillige Begünstigung auf Kosten der Mehrheit schwillt an mit dem Tempo des schnellsten Verkehrsmittels.

 

Zeitraubende Geschwindigkeit

 

Wir sollten nicht übersehen, daß Spitzengeschwindigkeiten für einige Wenige einen anderen Preis fordern als hohe Geschwindigkeiten für alle. Die soziale Klassifikation nach Geschwindigkeitsstufen erzwingt einen Netto-Transfer von Macht: Die Armen arbeiten und bezahlen, nur um zurückzubleiben. Aber wenn die Mittelklassen einer beschleunigten Gesellschaft vielleicht versucht sind, diese Diskriminierung zu ignorieren, so können sie doch nicht die wachsenden Kosten unbegrenzt entragen. Umweltzerstörung und die militärisch unterstütze Ausbeutung begrenzter Rohstoffe sind Kosten, die derzeit in die Augen springen. Sie könnten leicht einen noch fundamentaleren Preis der Beschleunigung verdecken. Hohe Geschwindigkeiten für alle bedeuten, daß jedem weniger Zeit für sich selbst bleibt, da die gesamte Gesellschaft einen wachsenden Anteil der Verfügbaren Zeit für die Beförderung von Menschen aufwendet. Fahrzeuge, welche die kritische Geschwindigkeit überschreiten, haben nicht nur die Tendenz, Ungleichheit zu diktiert, sondern sie schaffen auch notwendig eine sich selbst genügende Industrie, die ein zweckwidriges Beförderungssystem unter dem Anschein technologischer Raffinesse verbirgt. Ich bin der Meinung, daß eine Geschwindigkeitsbegrenzung nicht nur zur Wahrung der Gerechtigkeit notwendig ist; ebenso ist sie eine Bedingung für die Wirksamkeit der Verkehrsmittel: für die Steigerung der in einer Gesellschaft zurückgelegten Gesamtdistanz und für die Verringerung der in einer Gesellschaft für Ortsveränderungen aufgewandten Zeit.

Die Auswirkungen der Fahrzeuge auf das 24-Stunden-Zeitbudget von Individuen und Gesellschaften sind kaum erforscht. Verkehrsstudien liefern uns Statistiken über den Zeitaufwand pro Kilometer, über den in Dollars gemessenen Wert der Zeit oder über die Reisedauer. Doch diese Statistiken sagen nichts über die verborgenen Transportkosten – darüber, wie der Verkehr an der Lebenszeit nagt, über die Vervielfachung der durch die Existenz von Fahrzeugen notwendig gewordenen Reisen, über die Zeit, die direkt oder indirekt für die Vorbereitung von Ortswechseln aufgewandt wird. Ferner gibt es keinen Maßstab für die noch tiefer verborgenen Kosten des Transportwesens, etwa höhere Mieten in Gegenden, die günstig an den Verkehrsstrom angeschlossen sind, oder die Kosten für den Schutz dieser Gebiete vor dem durch Fahrzeuge verursachten Lärm, Schmutz und vor den Gefahren für Leib und Leben. Das Fehlen einer Kostenrechnung zum gesellschaftlichen Zeitbudget sollte uns jedoch nicht zu der Annahme verleiten, daß eine solche Berechnung unmöglich sei, noch sollte sie uns davon abhalten, aus dem wenigen, das wir wissen, Schlüsse zu ziehen. Unsere beschränkten Informationen zeigen, daß überall auf der Welt, nachdem ein Fahrzeug die Geschwindigkeitsbarriere von 25 km/h überschritt, der verkehrsbedingte Zeitmangel zunahm. Nachdem die Industrie diese Schwelle des Pro-Kopf-Ausstoßes erreicht hatte, machte der Verkehr den Menschen zu einem Heimatlosen neuen Typus: einem Geschöpf, das dauernd seinem Bestimmungsort fern ist und ihn aus eigener Kraft nicht erreichen kann, doch täglich erreichen muß. Heute arbeiten die Menschen einen erheblichen Teil des Tages, um das Geld zu verdienen, das sie brauchen, um überhaupt zur Arbeit zu kommen. Seit zwei Generationen wächst in Industrieländern die für den Arbeitsweg verwendete Zeit viel schneller an, wie die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit schrumpft. Die Zeit, die eine Gesellschaft für den Transport aufwendet, wächst proportional zur Geschwindigkeit ihres schnellsten öffentlichen Verkehrsmittels. Auf beiden Gebieten liegt Japan heute vor den USA in Führung. Die Lebenszeit wird angefüllt mit durch den Verkehr erzeugten Aktivitäten, sobald die Fahrzeuge die Schranke durchbrechen, welche die Menschen vor Entfremdung und den Raum vor Zerstörung bewahrt.

Ob das auf der Landstraße dahinrasende Fahrzeug dem Staat oder dem einzelnen gehört, ist kaum von Belang für die mit jeder Geschwindigkeitssteigerung anwachsende Zeitknappheit und Überprogrammierung. Um einen Menschen über eine gegebene Entfernung zu befördern, benötigen Omnibusse nur ein Drittel der Treibstoffmenge, die Pkw verbrennen. Pendelzüge sind bis zu zehnmal leistungsfähiger als Autos. Sie verbrennen auch nicht pro Woche den Sauerstoff, den ein Mensch für ein Jahr braucht. Beide könnten noch wirksamer und weniger umweltschädigend eingesetzt werden. In öffentlichem Eigentum und mit rationalem Management müssen sie so geplant und betrieben werden, daß die Privilegien, die sie gegenwärtig in privatem Besitz und bei inkompetenter Organisation schaffen, erheblich beschnitten werden könnten. Doch solange irgendein Fahrzeugsystem sich unserer Gesellschaft durch seine unbeschränkte Spitzengeschwindigkeit aufdrängt, ist die Öffentlichkeit vor die Wahl gestellt, mehr Zeit aufzuwenden, um die Beförderung von mehr Menschen von Tür zu Tür zu bezahlen, oder mehr Steuern zu zahlen, damit einige in der Lage sind, in kürzerer Zeit viel weiter zu reisen als andere. Die Größenordnung der innerhalb eines Transportsystems zugelassenen Spitzengeschwindigkeit bestimmt, welchen Anteil ihres Zeitbudgets eine Gesellschaft für den Verkehr aufwendet.

 

Das radikale Monopol der Industrie

 

Es läßt sich nicht sinnvoll über eine wünschenswerte Plafondierung der Fahrgeschwindigkeit diskutieren, ohne daß wir auf die Unterscheidung zwischen Fortbewegung aus eigener Kraft – Transit – und motorisiertem Transport zurückgreifen und vergleichen, welchen Beitrag jedes dieser Elemente in bezug auf die Gesamtheit der menschlichen Ortsveränderung, die ich als Verkehr bezeichnet habe, leistet.

Transport steht für die kapitalintensive Form des Verkehrs ein, und Transit bezeichnet die arbeitsintensive Form. Transport ist das Produkt einer Industrie, deren Kunden die Passagiere sind. Er ist eine industrielle Ware, und daher allein schon „knapp“. Eine Verbesserung des Transports findet jeweils unter den Bedingungen der Knappheit statt, die sich um so mehr verschärft, als die Geschwindigkeit – und damit die Kosten – der Dienstleistung zunimmt. Konflikte um einen unzulänglichen Transport tendieren dazu, die Form eines Null-Summenspiels anzunehmen, bei dem der eine nur dann gewinnt, wenn der andere verliert. Im besten Fall erlaubt ein solcher Konflikt eine Lösung nach Art des von A. Rappaport beschriebenen Dilemmas, in dem zwei Gefangene stehen: Wenn beide mit dem Gefängniswärter kooperieren, kommen beide Gefangenen einer kürzeren Zeit in der Zelle davon.

Fortbewegung im Sinn von Transit ist nicht das Produkt einer Industrie, sondern das autonome Unternehmen derer, die sich fortbewegen. Per definitionem hat sie einen Gebrauchswert, braucht jedoch keinen Tauschwert zu haben. Fortbewegung aus eigener Kraft beruht nicht auf Warentausch. Die Fähigkeit, am Transit teilzunehmen, ist dem Menschen angeboren und mehr oder minder gleich unter gesunden Individuen gleichen Alters verteilt. Die Ausübung dieser Fähigkeit kann beschränkt werden, indem einer bestimmten Klasse Menschen das Recht versagt wird, einen bestimmten Weg zu nehmen, oder weil es einer Bevölkerung an Schuhen oder Wegen fehlt. Konflikte über unzulängliche Transitbedingungen tendieren daher dazu, die Form eines Nicht-Null-Summenspiels anzunehmen, bei dem die meisten Teilnehmer an Beweglichkeit und Bewegungsraum gewinnen.

Die Gesamtheit des Verkehrs ist also das Ergebnis von zwei grundverschiedenen Produktionsweisen: einer kapital- und einer arbeitsintensiven Form. Diese können einander nur so lange harmonisch ergänzen, wie die autonomen Produkte gegen das Eindringen des Industrieprodukts geschützt werden.

Der Schaden, den unser heutiger Verkehr anrichtet, ist durch das Transportmonopol bedingt. Der Reiz der Geschwindigkeit hat Nationen fortschrittsgläubiger Passagiere verführt, sich auf die Versprechungen einer Industrie einzulassen, die den kapitalintensiven Verkehr produziert. Der Gewohnheits-Passagier ist überzeugt, daß die überschnellen Fahrzeuge ihm einen Fortschritt über jene beschränkte Autonomie hinaus ermöglichen, deren er sich erfreute, solange er sich aus eigener Kraft fortbewegte. Er läßt zu, daß der geplante Transport gegenüber der Alternative eines autonomen Transits dominiert. Die Zerstörung der physischen Umwelt ist die noch am wenigsten schädliche Folge dieses Zugeständnisses. Weit schwerwiegendere Folgen sind die Vervielfachung der psychischen Frustration, die wachsenden Nachteile der fortgesetzten Produktion und die Unterwerfung unter eine ungleiche Machtverteilung – die sämtlich Manifestationen eines gestörten Verhältnisses zwischen Lebenszeit und Lebensraum sind. Der Passagier in einer durch den Transport entfremdeten Welt wird zu einem verstörten, überlasteten Konsumenten von Entfernungen, die sich durch Güter und Dienstleistungsproduktion stets ausdehnen.

Jede Gesellschaft, die den Zwang zur Beförderung diktiert, unterdrückt den Transit zugunsten des Transports. Wo immer denen, die keine überschnellen Beförderungsmittel benutzen, nicht nur Privilegien, sondern auch elementare Bedürfnisse verweigert werden, wird eine unfreiwillige Beschleunigung des individuellen Rhythmus erzwungen. Sobald das tägliche Leben von motorisierter Beförderung abhängig wird, beherrscht die Industrie den Verkehr. Diese tiefgreifende Herrschaft der Transportindustrie über die natürliche Mobilität begründet ein viel beherrschenderes Monopol als etwa das kommerzielle Monopol, das Ford auf dem Automobilmarkt gewinnen könnte, oder das politische Monopol, das die Automobilhersteller gegenüber der Entwicklung des Eisenbahn- oder Busverkehrs ausüben mögen. Ford kann das Mittel zur Überwindung einer Entfernung einem Monopol unterwerfen, und mittels der Bahn kann Fords Monopol gebrochen werden. Das überschnelle Beförderungsmittel tut mehr: es schafft entfremdende Entfernung. Wegen seines verborgenen und tiefgreifend strukturierenden Charakters nenne ich es ein radikales Monopol. Ein solches festbegründetes Monopol übt jede Industrie aus, sobald sie zum dominierenden Mittel der Befriedigung von Bedürfnissen wird, die vorher eine individuelle Reaktion auslösten. Der Zwangskonsum einer Ware mit hohem Energieverbrauch (des motorisierten Transports) beschneidet die Voraussetzungen für den Genuß eines reichlich vorhandenen Nutzwertes (der angeborenen Fähigkeit zur Fortbewegung). Der Verkehr bietet darin das Exempel eines allgemeinen ökonomischen Gesetzes: Jedes Industrieprodukt, dessen Pro-Kopf-Verbrauch eine gegebene Höhe überschreitet, übt ein radikales Monopol über die Befriedigung eines Bedürfnisses aus. Jenseits einer gewissen Schwelle zerstört der Schulzwang die Bedingungen des Lernens, veröden medizinische Versorgungssysteme die nicht-therapeutischen Quellen der Gesundheit und erstickt der Transport den Verkehr.

Zuerst wird das radikale Monopol errichtet durch eine Umordnung der Gesellschaft zum Nutzen derer, denen die größere Quantität zur Verfügung steht, sodann wird es verstärkt, indem alle gezwungen werden, jene minimale Quantität zu konsumieren, in der das Produkt gerade hergestellt wird. In Industriezweigen, in denen die Information dominiert, etwa im Ausbildungs- oder medizinischen Sektor, wird der Zwangskonsum eine andere Erscheinung annehmen als in solchen Zweigen, wo die Quantitäten mit dem BTU (British Thermal Units)-Parameter gemessen werden können, etwa Wohnungsbau, Bekleidungsindustrie oder Transport. Bei verschiedenen Produkten wird die industrielle Wertzuweisung ihre kritische Intensität auf verschiedenen Stufen erreichen, doch für jede wichtige Klasse von Produkten liegt die Schwelle in einer theoretisch angebbaren Größenordnung. Je höher die Geschwindigkeitsgrenze einer Gesellschaft, um so bedrückender wird das Monopol des Transports. Die Tatsache, daß es möglich ist, den Geschwindigkeitsbereich zu bestimmen, in dem der Transport ein radikales Monopol über den Verkehr zu gewinnen beginnt, besagt nicht, daß es auch möglich wäre, einfach theoretisch zu bestimmen, für welche obere Geschwindigkeitsschranke eine Gesellschaft sich entscheiden sollte. Keine Theorie, sondern nur Politik kann bestimmen, ein wie starkes Monopol eine gegebene Gesellschaft noch tolerieren will. Die Tatsache, daß es möglich ist, eine Stufe der Zwangsunterweisung zu bestimmen, auf der Lerneffekt durch Sehen und Tun im praktischen Leben abzunehmen beginnt, befähigt den Theoretiker noch nicht, die spezifischen pädagogischen Grenzen der Industrialisation zu bestimmen, die eine Kultur tolerieren kann. Nur der Rekurs auf juridische und vor allem politische Verfahren kann zu spezifischen, wenn auch provisorischen Maßstäben führen, durch welche dem Tempo oder der Zwangsausbildung in einer Gesellschaft tatsächlich eine Schranke gesetzt werden mag. Das Übergreifen des radikalen Monopols läßt sich in einem theoretisch ausgebauten Schema durch die soziale Analyse feststellen, aber das Ausmaß freiwilliger Beschränkung läßt sich nur im politischen Prozeß freilegen. Ein Industriezweig diktiert einer ganzen Gesellschaft ein radikales Monopol nicht schon durch die einfache Tatsache, daß er knapp Produkte produziert, oder weil er konkurrierende Industrieunternehmen vom Markt verdrängt, sondern vielmehr kraft seiner erworbenen Fähigkeit, gerade das Bedürfnis zu schaffen und zu formen, das er allein befriedigen kann.

Schuhe sind in ganz Lateinamerika knapp, und viele Menschen tragen niemals welche. Sie gehen barfuß oder tragen ausgezeichnete Sandalen von allerbreitester Vielfalt, die von den verschiedensten Handwerkern hergestellt werden. Ihre Fortbewegung ist keineswegs durch die fehlenden Schuhe beeinträchtigt. Doch in manchen südamerikanischen Ländern sind die Menschen gezwungen, Schuhe zu tragen, seit Barfüßigen der Zutritt zu Schulen, Arbeitsplätzen und allen öffentlichen Ämtern verwehrt ist. Lehrer oder Parteifunktionäre fassen das Fehlen von Schuhen als Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber dem „Fortschritt“ auf. Ohne jede absichtliche Verschwörung zwischen den Förderern der nationalen Entwicklung und der Schuhindustrie sind die Barfußgehenden in diesen Ländern von jedem wichtigeren Amt ausgeschlossen.

Wie Schuhe, so waren auch Schulen zu allen Zeiten knapp. Doch nie kam es vor, daß die geringe Zahl privilegierter Schüler die Schule in ein Lernhemmnis verwandelte. Erst als Gesetze erlassen wurden, die beschränkten Schulzwang und unbeschränkte Gebührenfreiheit einführten, gewann der Erzieher die Macht, den Unterkonsumenten von Ausbildungstherapien die Lernchancen am Arbeitsplatz zu verwehren. Erst nachdem der Schulbesuch obligatorisch geworden war, wurde es möglich, allen eine zunehmend komplexere, geplante Umwelt aufzuzwingen, in die die Ungebildeten und Unprogrammierten nicht hineinpaßten.

Im Fall des Verkehrs sind die Möglichkeiten eines radikalen Monopols nicht zu übersehen. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn die Transportindustrie ihr Produkt irgendwie adäquater verteilen könnte: Ein Verkehrsutopia der kostenlosen schnellen Beförderung für alle würde unvermeidlich zu einer weiteren Expansion der Beherrschung des menschlichen Lebens durch den Verkehr führen. Wie würde solch ein Utopia aussehen? Der Verkehr würde ausschließlich in öffentlichen Transportsystemen organisiert. Er würde durch eine progressive Besteuerung finanziert, die nach dem Einkommen und der Nähe des Wohnorts zur nächsten Zusteigestation und zum Arbeitsplatz berechnet würde. Er würde so programmiert, daß jeder nach dem Prinzip: wer zuerst kommt, fährt zuerst, einen Platz beanspruchen könnte – dem Arzt, dem Urlauber und dem Präsidenten würden keinerlei individuelle Vorrechte zugestanden. In diesem Narrenparadies wären alle Reisenden gleich, aber sie wären auch gleichermaßen Gefangene des Transportkonsums. Jedem Bürger eines motorisierten Utopia wäre der Gebrauch seiner Füße verwehrt, und er würde in die Sklaverei der wuchernden Transportnetze geführt.

Manche als Architekten maskiert Möchtegern-Wundertäter weisen einen trügerischen Ausweg aus dem Dilemma der Geschwindigkeit. Nach ihrer Auffassung diktiert die Beschleunigung nur deshalb Ungerechtigkeit, Zeitverlust und kontrollierte Fahrpläne, weil die Menschen noch nicht in jenen Formen und Bahnen leben, in die die Fahrzeuge sie ohne weiteres versetzen können. Diese futuristischen Architekten möchten die Menschen in autarken Turmeinheiten wohnen und arbeiten lassen, welche durch Schienen für superschnelle Kabinen miteinander verbunden sind. Soleri, Doxiadis oder Fuller möchten das durch den superschnellen Transport geschaffene Problem dadurch lösen, daß sie den gesamten Lebensbereich des Menschen in das Problem einbeziehen. Statt zu fragen, wie die Erdoberfläche für den Menschen erhalten werden kann, fragen sie, wie Reservate auf einer Erde geschaffen werden können, die um industrieller Produkte willen deformiert wurde.

 

Der verborgene Schwellenwert

 

Jede auf ein verkehrsgerechtes Optimum begrenzte Geschwindigkeit erscheint dem eingeschworenen Passagier als ein kapriziöses oder fanatisches Unterfangen, während sie dem Eseltreiber wie der Vogelflug erscheint. Die vier- bis sechsfache Geschwindigkeit eines Fußgängers stellt eine Schwelle dar, die vom Gewohnheitsreisenden für zu niedrig erachtet wird, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden, und die für zwei Drittel der Menschheit, die sich immer noch aus eigener Kraft fortbewegen, zu hoch ist, um den Sinn einer Beschränkung zu haben.

Alle, die das Wohnen, den Transport und die Ausbildung planen, gehören zur Klasse der Beförderungsverbraucher. Ihr Machtanspruch leitet sich vom Wert ab, den ihre staatlichen oder privaten Arbeitgeber der Beschleunigung von Eliten beimessen. Der Sozialwissenschaftler kann ein Computermodell des Verkehrs in Kalkutta oder Santiago ausarbeiten; Ingenieure können nach abstrakten Vorstellungen vom Verkehrsfluß Einschienenbahnnetze planen. Ihr Glaube an die Effektivität der Macht macht sie blind für die überproportional größere Effektivität des Verzichts auf ihren Einsatz. Mit gewaltiger Energie vergrößern sie Probleme, die nur der Verzicht lösen kann. Es fällt ihnen nicht ein, der Beschleunigung zu entsagen und um der Möglichkeit eines optimalen Verkehrsflusses willen so wenig wie möglich und so langsam wie möglich zu fahren. Sie kämen nie auf den Gedanken, einen Computer unter der Vorgabe zu programmieren, daß in der Stadt kein Fahrzeug schneller als mit der Geschwindigkeit eines Fahrrads fahren sollte. Ein mechanistisches Vorurteil verhindert es bisher, die beiden Komponenten des Verkehrs in ein und demselben Verkehrs-Simulationsmodell zu optimieren. Der Entwicklungsexperte, der von seinem Land-Rover mitleidig auf den indianischen Bauern hinabblickt, der seine Schweine zum Markt treibt, ist nicht bereit, die relativ Überlegenheit der Füße anzuerkennen. Der Experte ist geneigt zu vergessen, daß dieser Mann zu dem Zehntel der Mitbewohner seines Dorfes gehört, die ihre Zeit auf der Straße vertun, während der Ingenieur und alle Mitglieder seiner Familie gezwungen werden, einen großen Teil jedes Tages dem Verkehr zu opfern. Für einen Mann, der glaubt, sich die menschliche Mobilität nur im Sinn eines unbegrenzten Fortschritts vorstellen zu können, kann es kein optimales Verkehrsniveau, sondern nur einen flüchtigen Konsensus über eine gegebene Stufe der technischen Entwicklung geben. Der Träger von Entwicklungswut und der von ihm infizierte afrikanische Kollege wird für die optimale Wirksamkeit karger Technologie blind. Beschränkung des Energieverbrauches kommt für sie wohl in Betracht, um die Umwelt zu schützen; einfache Technologie, um provisorisch die Armen zu beschwichtigen; Geschwindigkeitsgrenzen, damit mehr Autos auf weniger Asphalt rollen. Aber Selbstbeschränkung, um das Mittel davor zu bewahren, daß es seinen Eigenzweck verliere, das liegt außerhalb seines Horizonts.

Die meisten Mexikaner, ganz zu schweigen von Indern und Afrikanern, finden sich in einer ganz anderen Situation als der eingefleischte Transport-Konsument. Für sie liegt die kritische Schwelle gänzlich jenseits dessen, was alle mit Ausnahme einiger weniger kennen oder erwarten. Sie gehören immer noch zur Klasse derer, die sich aus eigenem Antrieb fortbewegen. Manche von ihnen bewahren die Erinnerung an ein motorisiertes Abenteuer, doch die meisten von ihnen haben nie selbst die Erfahrung gemacht, sich der kritischen Geschwindigkeit zu bedienen. In den beiden typischen mexikanischen Staaten Guerrero und Chiapas bewegten sich im Jahr 1970 weniger als ein Prozent der Bevölkerung auch nur ein einziges Mal in weniger als einer Stunde weiter als 15 Kilometer. Die Fahrzeuge, in denen die Bewohner dieser Gegenden mitunter eingepfercht sind, machen das Reisen tatsächlich etwas bequemer, doch kaum schneller als mit dem Fahrrad. Der Bus dritter Klasse trennt den Bauern nicht von seinem Schwein, und er bringt sie beide ohne Gewichtsverlust auf den Markt; doch dieser Kontakt mit dem motorisierten „Komfort“ führt noch nicht zur Abhängigkeit von einer destruktiven Geschwindigkeit. Die Diskussion einer schon jetzt nötigen Geschwindigkeitsschranke, um den Fortschritt im Dienst der Mehrheit zu halten, ist hier fast ebenso schwierig, wie an einer technischen Hochschule.

Die Größenordnung, in der die kritische Geschwindigkeitsgrenze zu finden wäre, ist zu niedrig, um vom Gewohnheitspassagier ernst genommen zu werden, und zu hoch, um für den Bauern von Belang zu sein. Sie ist so offenbar, daß sie nicht leicht wahrgenommen werden kann. Verkehrsforschung heißt weiterhin Dienst an der Beförderungsindustrie. Der Vorschlag einer Geschwindigkeitsbegrenzung in dieser Größenordnung trifft deshalb auf hartnäckigen Widerstand. Er enthüllt die Sucht des industrialisierten Menschen, immer höhere Energiedosen zu konsumieren, während er von denen, die noch nüchtern sind, verlangt, auf etwas zu verzichten, das sie noch nicht gekostet haben.

Der Vorschlag, Gegenforschung im Dienst der Person zu treiben, ist nicht nur ein Skandal, sondern auch eine Bedrohung. Einfachheit bedroht den Experten, der angeblich genau weiß, warum der Pendelzug um 8.15 und um 8.41 verkehrt, und warum es besser sein mag, einen Treibstoff mit bestimmten Zusätzen zu verwenden. Die Vorstellung, daß ein politischer Prozeß eine sowohl unabdingbare als auch natürliche Größe bestimmen könnte, liegt außerhalb der Wertskala und Begriffswelt des Verbrauchers. Er läßt zu, daß sein Respekt vor Spezialisten, die er nicht einmal kennt, in gedankenlose Unterwerfung umschlägt. Wenn es möglich wäre, für die von Experten auf dem Gebiet des Verkehrs geschaffenen Probleme eine politische Lösung zu finden, dann könnte vielleicht dasselbe Heilmittel auf Probleme der Ausbildung, der Medizin oder der Urbanisierung angewandt werden. Könnte die Größenordnung der optimalen Verkehrsgeschwindigkeit von Fahrzeugen durch Laien, die aktiv an einem dauernden politischen Prozeß teilnehmen, bestimmt werden, dann würden die Fundamente, auf denen das Gerüst jeder Industriegesellschaft ruht, erschüttert. Eine solche Forschung vorzuschlagen, ist politisch subversiv. Sie stellt den umfassenden Konsensus in Frage, der es den heutigen politischen Widersachern erlaubt, sich als glaubwürdige Antagonisten auszugeben.

 

Grade der Mobilität („Narrenlob“ des Fahrrads)

 

Von einem Jahrhundert wurde das Kugellager erfunden. Es verringerte den Reibungskoeffizienten um das Tausendfache. Durch das Anbringen eines gut geeichten Kugellagers zwischen zwei neolithischen Mühlsteinen kann ein Inder heute an einem Tag so viel Korn mahlen wie seine Vorfahren in einer Woche. Das Kugellager ermöglichte das Fahrrad. Das „Rad“, der Rollkörper – wohl die letzte der großen neolithischen Erfindungen – wurde schließlich nutzbar für die aus eigener Kraft getriebene Mobilität. Das Kugellager ist hier Symbol für einen endgültigen Bruch mit der Tradition und für die entgegengesetzten Richtungen, in die Entwicklung führen kann. Ohne Geräte kommt der Mensch recht gut zurecht. Er befördert ein Kilogramm seines Gewichts in 10 Minuten einen Kilometer weit und verausgabt dabei 0,75 Kalorien. Der zu Fuß gehende Mensch ist thermodynamisch leistungsfähiger als jedes Motorfahrzeug und die meisten Tiere. Im Verhältnis zu seinem Gewicht leistet er mehr Bewegungsarbeit als die Ratte oder der Ochse und weniger als das Pferd oder der Stör. Mit diesem Maß an Leistung besiedelte der Mensch die Erde und machte seine Geschichte. In diesem Maß verbringen bäuerliche Gesellschaften weniger als 5 % und Nomaden weniger als 8 % ihres jeweiligen gesellschaftlichen Zeithaushalts im Verkehr außerhalb des Hauses oder Lagers.

Auf dem Fahrrad kann der Mensch sich drei- bis viermal schneller fortbewegen als der Fußgänger, doch er verbraucht dabei fünfmal weniger Energie. Auf flacher Straße bewegt er ein Gramm seines Gewichts einen Kilometer weit unter Verausgabung von nur 0,15 Kalorien. Das Fahrrad ist der perfekte Apparat, der die metabolische Energie des Menschen befähigt, den Bewegungswiderstand zu überwinden. Mit diesem Gerät ausgestattet, übertrifft der Mensch nicht nur die Leistung aller Maschinen, sondern auch die aller Tiere.

Die Erfindung des Kugellagers, des Tangentenspeichenrades und des pneumatischen Reifens zusammen können nur mit drei anderen Ereignissen in der Geschichte des Transports verglichen werden: Die Erfindung des Rades beim Anbruch der Zivilisation nahm die Last von den Schultern des Menschen und lud sie auf den Schubkarren. Im europäischen Mittelalter steigerte die Erfindung und gleichzeitige Anwendung der Trense, des Schultergeschirrs und des Hufeisens die thermodynamische Leistung des Pferdes um das bis zu Fünffache und veränderte die Ökonomie des mittelalterlichen Europa. Sie ermögliche ein häufiges Pflügen und eröffnete damit die rotierende Fruchtfolge. Sie versetzte weiter entfernte Felder in die Reichweite des Bauern, und erlaubte damit der Landbevölkerung, aus Weilern mit 6 Familien in 100-Familien-Dörfer zu ziehen, in den Umkreis der Kirche, des Marktplatzes, des Gefängnisses und später der Schule. Sie ermöglichte die Kultivierung im Norden gelegener Böden und verlagerte das Zentrum der Macht in die kalten Klimazonen. Und schließlich schuf der Bau der ersten hochseetüchtigen Frachtschiffe durch die Portugiesen im 15. Jahrhundert unter der Ägide des sich entfaltenden europäischen Kapitalismus die Grundlagen einer weltumspannenden Marktwirtschaft und den modernen Imperialismus.

Die Erfindung des Kugellagers läutete eine vierte Revolution ein. Es ermöglichte die Wahl zwischen mehr Freiheit und Gerechtigkeit einerseits und höherer Geschwindigkeit und Ausbeutung andererseits. Das Kugellager ist ein gleich wichtiger, fundamentaler Bestandteil der zwei Formen der Fortbewegung, die durch das Fahrrad bzw. das Auto symbolisiert werden. Das Fahrrad erhob die autogene Mobilität des Menschen in eine neue Ordnung, jenseits derer ein Fortschritt theoretisch kaum noch möglich ist. Im Gegenteil, die sich beschleunigende individuelle Fahrgastzelle befähigte die Gesellschaften, ein Ritual der zunehmend paralysierenden Geschwindigkeit zu befolgen.

Das Monopol der rituellen Anwendung eines potentiell nützlichen Geräts ist keine neue Erscheinung. Vor Jahrtausenden nahm das Rad dem Trägersklaven seine Last ab, doch dies geschah nur auf der eurasischen Landmasse. In Mexiko war das Rad wohlbekannt, doch wurde es nie zum Transport verwendet. Es diente ausschließlich zur Herstellung von Wägelchen für Spielzeug-Idole. Die Tabuisierung des Räderkarrens in Amerika vor Cortés ist nicht weniger erstaunlich als die Tabuisierung des Fahrrads im modernen Verkehr.

Es ist keineswegs notwendig, daß die Erfindung des Kugellagers weiterhin der Steigerung des Energieverbrauchs dient und damit Zeitmangel, Raumvergeudung und Klassenprivilegien schafft. Würde die neue Ordnung der auf eigener Kraft beruhenden Mobilität, die das Fahrrad bietet, vor Abwertung und Paralysierung sowie gegen das Risiko für Leib und Leben des Fahrers geschützt, dann wäre es möglich, allen eine optimale gemeinsame Mobilität zu garantieren und das Diktat der maximalen Privilegierung und Ausbeutung zu beenden. Es wäre möglich, die Formen der Urbanisierung zu kontrollieren, wenn nur die Strukturierung des Raumes in Übereinstimmung mit der Fähigkeit des Menschen, sich in ihm zu bewegen, erfolgte. Absolute Geschwindigkeitsbegrenzung ist wohl die durchschlagendste Form der Raumplanung und Raumordnung. Das Kugellager ist ambivalent zu seiner Verwendung in eitel oder in würdig angewandter Technik.

Fahrräder sind nicht nur thermodynamisch effizient, sie sind auch billig. Der Chinese mit seinem viel geringeren Lohn erwirbt sein langlebiges Fahrrad in einem Bruchteil der Arbeitszeit, die der Amerikaner für den Kauf seines schnell veraltenden Autos aufwendet. Die Ersparnis, die sich aus einem Vergleich der Kosten für die zur Ermöglichung des Fahrradverkehrs notwendigen öffentlichen Einrichtungen mit dem Preis für eine auf hohe Geschwindigkeiten abgestimmte Infrastruktur ergibt, ist noch größer als der Preisunterschied zwischen den bei beiden Systemen verwendeten Fahrzeugen. Beim Fahrradsystem sind befestigte Straßen nur an bestimmten Punkten mit dichtem Verkehr vonnöten, und Menschen, die von Wegen mit festem Belag weiter entfernt wohnen, sind damit nicht automatisch isoliert, wie sie es wären, wenn sie von Autos oder Zügen abhängig sind. Das Fahrrad hat den Radius des Menschen erweitert, ohne ihn auf Straßen zu verbannen, auf denen er nicht laufen darf. Normalerweise kann er das Fahrrad dort schieben, wo er nicht fahren kann.

Das Fahrrad benötigt auch wenig Raum. Achtzehn Fahrräder können auf der Fläche geparkt werden, die ein Auto beansprucht, dreißig Räder können auf dem Raum fahren, den ein einziges Automobil braucht. Es werden zwei Fahrspuren einer gegebenen Breite benötigt, um 40 000 Menschen mit modernen Zügen innerhalb einer Stunde über eine Brücke zu befördern, vier um sie in Bussen zu fahren, zwölf um sie in Pkw zu befördern und wieder nur zwei, um auf Fahrrädern hinüberzuradeln. Unter all diesen Fahrzeugen erlaubt nur das Fahrrad dem Menschen wirklich, von Tür zu Tür zu fahren, wann immer, und über den Weg, den er wählt. Der Radfahrer kann neue Ziele seiner Wahl erreichen, ohne daß sein Gefährt einen Raum zerstört, der besser dem Leben dienen könnte.

Fahrräder ermöglichen es dem Menschen, sich schneller fortzubewegen, ohne nennenswerte Mengen von knappem Raum, knapper Energie oder knapper Zeit zu beanspruchen. Er benötigt weniger Stunden pro Kilometer und reist doch mehr Kilometer im Jahr. Er kann den Nutzen technologischer Errungenschaften genießen, ohne die Pläne, die Energie oder den Raum anderer übermäßig zu beanspruchen. Er wird Herr seiner Bewegung, ohne die seiner Mitmenschen wesentlich zu beeinträchtigen. Sein neues Werkzeug schafft nur solche Bedürfnisse, die es auch befriedigen kann. Jede Steigerung der motorisierten Beschleunigung schafft neue Ansprüche an Raum und Zeit. Die Verwendung des Fahrrads beschränkt sich von selbst.

Kugellager und Pneu erlauben den Menschen, ein neues Verhältnis zwischen ihrem Lebensraum und ihrer Lebenszeit, zwischen ihrem Territorium und dem Rhythmus ihres Seins zu schaffen, ohne Raumzeit und biologisches Tempo voneinander zu reißen. Diese Vorteile des modernen, von eigener Kraft angetriebenen Verkehrs sind offensichtlich – aber sie werden weitgehend ignoriert. Das Kugellager steht immer mehr ausschließlich im Dienst der Maschine. Daß ein besserer Verkehr immer schneller rollt, wird zwar oft behauptet, jedoch nie bewiesen. Ein Grund hierfür ist wohl, daß die Beweisführung klar aufzeigen würde, für wie wenige heute schneller Verkehr besser ist. Das Gegenteil kann leicht bewiesen werden, wird heute noch zögernd hingenommen und wird wohl sehr bald offensichtlich sein.

Ein grausamer Wettkampf zwischen Fahrrad und Motor ging soeben zu Ende. In Vietnam versuchte eine hyperindustrialisierte Armee ein auf Grund der Fahrradgeschwindigkeit organisiertes Volk zu unterwerfen – doch sie konnte es nicht besiegen. Dies ist eine deutliche Lektion. Armeen mit großem Energiepotential können Menschen auslöschen – sowohl diejenigen, die sie verteidigen, als auch diejenigen, gegen die sie eingesetzt werden –, doch sie sind von sehr beschränktem Nutzen für ein Volk, das sich selbst verteidigt. Das vietnamesische Volk hätte schon lange verloren, hätte seine Armee sich befördern lassen. Es bleibt abzuwarten, ob die Vietnamesen das, was sie im Krieg taten, auf eine Friedenswirtschaft anwenden werden, ob sie bereit sein werden, die Werte zu bewahren, die ihren Sieg ermöglichten. Es besteht wohl die düstere Aussicht, daß die Sieger, im Namen des industriellen Fortschritts und des gesteigerten Energieverbrauchs, sich selbst eine Niederlage beibringen werden, indem sie jene Schranken der Gerechtigkeit, Rationalität und Autonomie brechen, welche die amerikanischen Bomber ihnen aufzwangen, als sie ihnen Treibstoffe, Motoren und Straßen raubten.

 

Der Motor als Beherrscher und als Gehilfe

 

Die Menschen werden mit beinah gleicher Mobilität geboren. Ihre natürliche Befähigung spricht für die individuelle Freiheit eines jeden, zu gehen, wohin immer er oder sie will. Die Bürger einer auf den Begriff der Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit gegründeten Gesellschaft werden den Schutz dieses Rechtes gegen jegliche Beschneidung fordern. Für sie sollte es gleichgültig sein, durch welche Mittel die Ausübung der individuellen Bewegungsfreiheit verwehrt wird – sei es Gefängnishaft, Bindung an einen Grundherrn, Einziehung des Reisepasses oder die Fesselung an eine Umwelt, die die angeborene Fähigkeit des einzelnen zur Fortbewegung beeinträchtigt, um ihn zum Konsumenten des Transports zu machen. Dieses unveräußerliche Recht der Bewegungsfreiheit, Bewegungsgleichheit und Bewegungsfreude geht nicht einfach dadurch verloren, daß die meisten Zeitgenossen sich in ideologische Sicherheitsgurte geschnallt haben. Die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Fortbewegung erscheint als der einzige Maßstab, an dem der Beitrag der Transportmittel zum Verkehr zu bewerten ist: Es gibt nur so viel Transport, wie der Verkehr verträgt. Es bleibt zu zeigen, wie wir solche Formen des Transports, die die Bewegungsfähigkeit verkrüppeln, von jenen unterscheiden können, die sie vermehren.

Der Transport kann den Verkehr auf dreierlei Weise beeinträchtigen: durch die Unterbrechung des Verkehrsflusses, durch die Schaffung von isolierten Bestimmungswelten und durch die Vermehrung der verkehrsbedingten Zeitverluste. Ich habe bereits festgestellt, daß der Schlüssel zum Verhältnis zwischen Transport und Verkehr in der Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge liegt. Ich habe nachgewiesen, wie der Transport jenseits einer bestimmten Geschwindigkeitsschwelle den Verkehr behindert. Er blockiert die Mobilität, indem er die Umwelt mit Fahrzeugen und Straßen vollstopft. Er verwandelt die Geographie in eine Pyramide von Verkehrskreisen, die je nach Beschleunigungsstufe hermetisch voneinander abgeschlossen sind. Im Dienst der Geschwindigkeit raubt er Lebenszeit.

Wenn der Transport jenseits einer gewissen Schwelle den Verkehr beeinträchtigt, so gilt auch das Gegenteil: Unterhalb einer bestimmten Geschwindigkeitsstufe können Motorfahrzeuge den täglichen Pendelverkehr ergänzen oder verbessern, indem sie es den Menschen ermöglichen, Dinge zu tun, die sie zu Fuß oder auf dem Fahrrad nicht oder nur mühsam vollbringen könnten. Motorfahrzeuge können Verwendung finden, um die Lahmen, die Kranken, die Alten oder die einfach Müden zu befördern. Motorlifte und Rampen können Menschen und ihre Räder auf einen Berg schleppen. Züge können dem täglichen Kreislauf dienen, aber nur dann, wenn sie nicht letztlich Bedürfnisse schaffen, die sie nicht sättigen können; und diese Gefahr besteht, sobald Transporte auf dem Arbeitsweg Fahrräder überholen.

Noch einleuchtender ist wohl der Dienst des Fahrzeuges für den Passagier, der nicht auf dem täglichen Arbeitsweg, sondern auf Reisen ist. Bis zur Zeit der Dampfmaschine war der Reisende froh, zu Schiff, mit dem Pferd oder in der Kutsche fünfzig Kilometer am Tag hinter sich zu bringen - zwei Kilometer pro peinlicher Reisestunde. Das englische Wort „travel“ erinnert noch daran, wie schmerzvoll Reisen waren: es kommt vom „trepalium“, dem dreizackigen Pfahl, der Tötung am Kreuz im frühen Mittelalter als Marterwerkzeug ersetzte. Man vergißt heute leicht, daß 25 Stundenkilometer im gefederten Waggon einen bis vor kurzem undenkbaren „Fortschritt“ bedeuten.

Ein modernes Transportsystem mit dieser Beförderungsgeschwindigkeit hätte es Inspektor Fix ermöglicht, Phileas Fogg in weniger als der Hälfte von achtzig Tagen um die Welt zu jagen. Reisen innerhalb dieser Grenzen geht auf die Zeitkosten des Fahrgastes: Es ist arbeitsintensiv in der Produktion und zeitfüllend für den Passagier.

Eine Beschränkung der Energie und damit der Geschwindigkeit der Motoren allein sichert noch nicht die Schwächeren gegen die Ausbeutung durch die „Reichen und Mächtigen“, die immer noch Mittel und Wege finden können, um an günstiger gelegenen Orten zu leben und zu arbeiten, regelmäßig in plüschgepolsterten Wagen zu reisen und eine besondere Fahrspur für Ärzte und Mitglieder des Zentralkomitees zu reservieren. Aber bei einer hinlänglich beschränkten Maximalgeschwindigkeit sind dies Ungerechtigkeiten, die sich durch eine Kombination von Steuern und technischen Hilfsmitteln verringern oder sogar ausgleichen lassen. Bei unbeschränkten Spitzengeschwindigkeiten können weder das öffentliche Eigentum der Transportmittel noch technische Verbesserungen ihrer Kontrolle je die zunehmende, ungleiche Ausbeutung beseitigen. Eine Transportindustrie ist der Schlüssel zur optimalen Produktion von Verkehr, doch nur wenn sie nicht ein radikales Monopol über die individuelle Produktivität ausübt.

 

Unterentwicklung, Überentwicklung und technologische Reife

 

Die Kombination von Transport und Transit, die den Verkehr konstituiert, bot uns ein Beispiel für einen gesellschaftlich optimalen Energieverbrauch pro Kopf und für die Notwendigkeit, diesem politisch definierte Schranken aufzuerlegen. Der Verkehr ist auch ein Modell für die Konvergenz weltweit gültiger Entwicklungsziele und ein Kriterium, an Hand dessen sich die Länder, die bedrückend untertechnisiert sind, von denen unterscheiden lassen, die zerstörerisch überindustrialisiert sind.

Ein Land muß dann als untertechnisiert bezeichnet werden, wenn es nicht in der Lage ist, jedem Bürger das für ihn geeignete „Fahrrad“ zu Verfügung zu stellen. Es ist untertechnisiert, wenn es nicht gute „Fahrradstraßen“ bereitstellen kann und karg bemessene, kostenlos verwendbare Hilfsmotoren. Es gibt keinen technischen, ökonomischen oder ökologischen Grund, warum wir uns im Jahr 1975 irgendwo auf der Welt mit einer solchen Rückständigkeit abfinden sollten. Es wäre eine Schande, wenn die natürliche Beweglichkeit der Menschen gegen ihren Willen auf einer niedrigeren Stufe als der optimalen stagnieren müßte.

Ein Land ist als überindustrialisiert zu bezeichnen, wenn sein gesellschaftliches Leben von einer Transportindustrie beherrscht wird, welche die Macht besitzt, Klassenprivilegien zu statuieren, den Zeitmangel zu akzentuieren und die Menschen straff an Fahrbahnen und Fahrpläne zu fesseln. Untertechnisierung und Überindustrialisierung scheinen heute die beiden Pole möglicher Entwicklung zu sein. Aber jenseits ihres Spannungsfeldes liegt doch noch die Welt reifer Technik, der Raum post-industrieller Effektivität, in der die karge Bemessung der Technik die würgend knappe Warenzuteilung überwindet, die das notwendige Resultat technischer Hybris ist. Reife Technik setzt dem Motor die Grenzen, außerhalb derer er zum Herrn wird; reife Ökonomie setzt industrieller Produktion jene Schranken, innerhalb derer sie die autonomen Formen der Produktion stärkt und ergänzt. Auf den Verkehr übertragen ist das die „Welt des Fahrrades“ und der langen Reise, der anarchischen, aber modernen Effizienz, der offenen Welt und der freien Begegnung.

Untertechnisierung ist für den heutigen Menschen ein Grund, sich machtlos den Gewalten von Natur und Gesellschaft ausgeliefert zu fühlen. Überindustrialisierung nimmt dem Menschen die Macht, wirkliche Entscheidungen zu treffen über alternative Arten der Produktion, der Politik und des Lebens. Überindustrialisierung diktiert den sozialen Beziehungen ihre technischen Merkmale. Die Welt der technologischen Reife läßt eine Vielzahl von politischen Alternativen und Kulturen zu. Diese Vielfalt schwindet selbstverständlich, sobald die Gesellschaft der Industrie ein Wachstum auf Kosten der autonomen Produktion von Nutzwerten gestattet.

Wie schon gesagt, kann die Theorie allein keinen exakten Maßstab für das Niveau der einer konkreten Gesellschaft angemessenen postindustriellen Effektivität und technischen Reife bieten. Sie kann beiläufig die Dimensionen des Bereichs angeben, dem diese technischen Merkmale sich einfügen müssen. Es muß einer ihre eigene Politik betreibenden historischen Gesellschaft überlassen bleiben zu entscheiden, wann die Programmierung, die Zerstörung des Raumes, die Zeitknappheit und die Ungerechtigkeit nicht mehr dafürstehen. Die Theorie kann die Geschwindigkeit als kritischen Faktor des Verkehrs bestimmen. Sie kann die Notwendigkeit für karg bemessene Technik beweisen. Sie kann nicht politisch durchführbare Schranken festsetzen. Das Kugellager fordert entweder ein neues politisches Bewußtsein, das die Werkzeuge der Gesellschaft in Maßen hält, oder es beschwört techno-faschistische Diktatur herauf.

Es gibt zwei Wege zur Erreichung der technologischen Reife: der eine ist die Befreiung vom Überfluß; der andere die Befreiung vom Wunschtraum des Fortschritts. Beide Wege führen zu demselben Ziel: der sozialen Rekonstruktion des Raumes, die jedem einzelnen die immer wieder neue Erfahrung vermittelt, daß dort, wo er steht, geht und lebt, der Mittelpunkt der Welt ist.

Die Befreiung vom Überfluß muß auf den Verkehrsinseln der Großstädte beginnen, wo die „Überentwickelten“ übereinander stolpern. Die Reichen lassen sich von hier aus mit hoher Geschwindigkeit von einem solchen Treffpunkt zum anderen katapultieren und leben in der Gesellschaft von Mitreisenden, von denen jeder woandershin unterwegs ist. Die Armen im reichen Land werden unentwegt innerhalb der eigenen Stadt verschifft und verfrachtet auf Kosten ihrer Muße und Geselligkeit. Der Neger und der Manager, der Fabrikarbeiter und der Kommissar werden so durch Beförderungsverbrauch vereinsamt. Diese Einsamkeit des Überflusses, an der arm und reich leiden, kann sich nur lösen, wenn die Verkehrsinseln innerhalb der Großstadt sich allmählich ausdehnen, und wenn transportmittelfreie Zonen den Menschen helfen, ihre angeborene Macht über den Raum wiederzuentdecken. So können in der ausgelaugten Umwelt der Industriestädte Anfänge der sozialen Rekonstruktion enthalten sein, und jene, die sich heute reich nennen, werden die Fessel des übereffizienten Transports an dem Tag zerbrechen, an dem sie den nunmehr voll erblühten Horizont ihrer Verkehrsinsel schätzen und häufige Verfrachtungen in die Fremde fürchten lernen.

Die Befreiung vom Wunschtraum der Bereicherung setzt am anderen Ende ein. Sie durchbricht die Beengtheit von Dorf und Tal und führt aus der Langeweile enger Horizonte und der lähmenden Bedrücktheit einer in sich abgeschlossenen Welt hinaus. Die Erweiterung des Lebens über den Umkreis der Tradition ist ein Ziel, das jedes arme Land binnen weniger Jahre erreichen könnte, doch dieses Ziel wird nur von denen erreicht werden, die das im Namen einer Ideologie des unbegrenzten Energiekonsums ergangene Angebot einer unkontrollierten industriellen Entwicklung ausschlagen.

Die Befreiung vom radikalen Monopol der Industrie und die frohe Wahl einer kargen Technologie ist nur dort möglich, wo die Menschen an einem politischen Prozeß teilnehmen, der auf der Gewährleistung eines optimalen Verkehrs beruht. Diese wiederum verlangt die Anerkennung von sozialkritischen Energiequanten, auf deren Vernachlässigung die Industriegesellschaft fußt. Diese Energiemengen reichen aus, um diejenigen, die gerade so viel, aber nicht mehr verbrauchen, in ein technologisch reifes post-industrielles Zeitalter zu bringen.

Diese für die Armen so billige Befreiung wird die Reichen teuer zu stehen kommen, aber sie werden diesen Preis jedenfalls entrichten müssen, wenn die Beschleunigung der Transportsysteme den Verkehr zusammenbrechen läßt. Eine konkrete Analyse des Verkehrs enthüllt also die der Energiekrise zugrunde liegende Wahrheit: Die Auswirkung industriell verpackter Energiequanten tendiert zu Zerstörung, Erschöpfung und Versklavung, und diese Folgen werden noch schneller eintreten als die Gefahren der physischen Umweltvernichtung und der Ausrottung der menschlichen Gattung. Wenn „Beschleunigung“ erst einmal entzaubert wäre, dann stünde die Entscheidung offen, gemeinsam im Süden und im Norden, auf dem Land und in der Stadt, in Ost und West modernem Werkzeug jene Grenzen zu setzen, innerhalb deren es zur Befreiung beitragen kann.